Zwei Menschen umarmen sich auf einem Bahnsteig in der Ukraine

Die ukrainische Bahn Auch im Krieg pünktlich

Stand: 05.06.2023 19:41 Uhr

Hunderte Kilometer Gleise wurden im Krieg gegen die Ukraine zerstört - und doch rollt die ukrainische Bahn meist pünktlich durch das Land. Ob reguläre Passagiere, Staatsgäste, Kriegsgerät - die Bahn hält das Land zusammen.

Als Anfang Mai im Bahnhof von Cherson ein Teil eines Zuges von einer Rakete getroffen wurde, passierte etwas Bemerkenswertes. Die Zugbegleiter und Helfenden brachten die Reisenden sofort in Sicherheit, koppelten den zerstörten Waggon ab und fuhren los.

Das passierte derart flott, dass der Zug trotz des Einschlags fast pünktlich am Zielort ankam. In der Ukraine sprach sich das schnell herum. Die Mitarbeiter der Bahn genießen derzeit großes Ansehen.

Fahrt Richtung Front

Die Strecke von Kiew nach Cherson ist riskant, denn die Fahrt führt in die Nähe der Front. Elf Stunden soll der Zug laut Fahrplan durch die Nacht unterwegs sein - und doch ist er voll besetzt. Rechts und links vom engen Mittelgang liegen die Fahrgäste auf schmalen Pritschen. Es erinnert eher an ein U-Boot, denn einen Liegewagen. Man muss sich bücken, um nicht an die von den oberen Betten herausragenden Füße zu stoßen.

700 Kilometer im Liegen in der dritten Klasse, inklusive Bettzeug und einem Glas Tee kosten umgerechnet vier Euro vierzig. Die Bahn ist populär und preiswert. Jeder Wagen hat einen eigenen Schaffner.

Größter Arbeitgeber der Ukraine

Hier in Wagen fünf ist es Halena. Gerade trägt sie von Hand alle Namen und Ticketnummern ihrer Passagiere in eine Liste ein. Seit sechs Jahren arbeitet sie bei der Bahn, die mit 266.300 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber im Land ist. Halena wirkt ernst und konzentriert. Beinahe bedrückt.

Sie zögert auf die Frage, ob diese Strecke Kiew - Cherson eine sichere oder eher unsichere Route sei. Sie wisse es noch nicht, sagt sie dann. Es sei erst das zweite Mal, dass sie die Strecke fahre. "Geht so", antwortet sie knapp auf die Frage, ob sie etwas nervös sei und dann, um sich selber zu beruhigen: "Na, ja, es ist fast normal hier."

Die ukrainische Schaffnerin Halena.

Die Bahn ist der größte Arbeitgeber in der Ukraine. Schaffnerin Halena fährt erst das zweite Mal auf der Strecke nach Cherson.

Sorge um die Fahrgäste

Sie hat den Ernstfall vor Augen. "Ich mache mir Sorgen, dass die Reisegäste sicher an ihren Zielort kommen. Wenn etwas passiert, leisten wir erste Hilfe." Was sie tue, um etwas zu ruhiger zu werden? "Ich beruhige mich selber, und wir haben auch einen Manager im Zug."

Halena hat drei Kinder zu Hause. Als sie das erste Mal die Route an die Front fuhr, wusste ihre älteste Tochter Bescheid. Dieses Mal wisse sie aber nicht, dass ihre Mutter wieder dorthin unterwegs ist: "Sie macht sich sonst Sorgen. Ich will nicht, dass sie beunruhigt ist."

Cherson wird ständig von russischem Militär angegriffen. Der Zug wird dort 50 Minuten Aufenthalt haben und dann wieder nach Kiew fahren. In der Zeit muss Halena den Wagen aufräumen.

"Die Eisenbahn näht das Land zusammen"

"Wie immer näht auch heute die Eisenbahn das Land zusammen, es sind großartige Leute und Helden", beschreibt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan die ukrainische Eisenbahn. Tatsächlich ist die Ukraine ein Eisenbahnland - wie auch Russland.

Während man in Deutschland auf Autobahnen, Flugverkehr und die Schiene setzt, ist die Eisenbahn in diesem Flächenland alles. Zumal im Krieg, da der Luftraum gesperrt ist.

Dabei gibt es ein entscheidendes Detail: Die ukrainischen Schienen haben dieselbe Spurbreite wie die russischen: 1520 Millimeter. Das sind 85 Millimeter mehr als der internationale Durchschnitt. Das bedeutet, die Russen können einfach auf diesem Schienennetz hinein- und hinausrollen. 

Sie müssen nichts umladen. Das allerdings ist dann gen Westen notwendig, denn die Nachbarstaaten dort haben schmalere Schienen.

Ein Zug mit Geflüchteten aus der Region Donezk kommt am Bahnhof in Lwiw an (Bild vom 28.05.2022).

Vier Millionen flüchtende Menschen beförderte die ukrainische Bahn zu Beginn des Krieges an die Grenzen. Hier ein Zug aus der Region Donezk in Lwiw.

Wer die Bahn kontrolliert, kontrolliert das Land

Die Eisenbahn gehört zur sensiblen Infrastruktur. Zu Beginn des Krieges beförderte sie knapp vier Millionen flüchtende Menschen an die Grenzen. Munition und Kriegsgerät werden damit transportiert und ausländische Staatsgäste auch.

Das Schienennetz von etwa 20.000 Kilometern Länge ist ständiges Ziel russischer Angriffe. Mehr als 500 Kilometer ukrainischer Schienen wurden seit dem Angriffskrieg zerstört, ebenso 126 Bahnhöfe, 50 davon komplett.

Die Ukraine selbst hat oft Eisenbahnbrücken gesprengt, um anrückende russische Truppen aufzuhalten. Die Bahn ist Instrument der Eroberung. Wer sie kontrolliert, so der Eindruck, kontrolliert das Land.

Mit der Bahn in den Heimaturlaub

In der zweiten Klasse am Fenster blickt ein Soldat ins Dunkel. Er steht da schon recht lange und stützt seinen bandagierten Ellenbogen. Er komme aus Bachmut, sagt er: "War dann im Krankenhaus. Jetzt fahre ich nach Hause. Ein Jahr war ich nicht zu Hause in Cherson." 30 Tage habe er Urlaub, dann gehe es zurück an die Front.

"Die Züge hier fahren genau nach Fahrplan. So soll es auch sein", meint der Soldat. "Egal ob Krieg oder nicht, die Logistik ist entscheidend. Ohne die klappt nichts. Die Bahn ist wichtig, Menschen können zurück nach Hause, zur Arbeit." Hier sei es ruhig, ganz anders als dort, an der Front. "Da haben wir uns immer versteckt und hockten in Gräben." Er blickt wieder durch die Scheibe in die Nacht.

Ein verwundeter ukrainischer Soldat in einem Zug

Seit einem Jahr war dieser Soldat nicht zu Hause. Nun hat er 30 Tage Urlaub.

Auf die Minute pünktlich

Der Zug ist auf die Minute pünktlich. Es ist ein Erfolg, der auch politisch belohnt wurde: Der letzte Chef der Bahn, Oleksandr Kamyshin, wurde im März zum Minister für strategische Industrien ernannt. Allerdings wurde erst in der vergangenen Woche bekannt, dass auch bei der Bahn gegen korrupte Mitarbeiter ermittelt wird.

In den Gesprächen im Nachtzug Richtung Front hört man davon nichts, die Zufriedenheit mit der Ukrasalisnizia scheint groß zu sein. "Die Züge fahren, egal was ist", sagt Dasha, die in Kiew Schauspiel studiert und nach Hause fährt. "Selbst wenn sie von einer Rakete getroffen werden. Die fahren immer noch." Ihre Freundin Anja ergänzt: "Diese Menschen von der Bahn riskieren ihr Leben. Jeden Tag."

Schaffnerin Halena macht jetzt das Licht aus. Im Liegewagen der dritten Klasse wird es dunkel. Aus der hinteren Ecke hört man Schnarchen. Der Zug rollt weiter Richtung Front. Und wird auch in Cherson pünktlich ankommen.

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