Ungarns Premier Orban spricht im EU-Parlament.

Mehrheit im EU-Parlament Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn

Stand: 12.09.2018 15:16 Uhr

Das Europaparlament hat ein Strafverfahren gegen Ungarns rechtsnationale Regierung unter Ministerpräsident Orban auf den Weg gebracht. Es geht um Verstöße gegen demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien.

Nach Polen muss sich auch Ungarn einem Sanktionsverfahren wegen Gefährdung von EU-Grundwerten stellen. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Europaparlament stimmte für ein Rechtsstaatsverfahren, das im äußersten Fall zum Entzug der Stimmrechte im Ministerrat führen könnte.

Für die Auslösung des Verfahrens stimmten 448 Abgeordnete, 197 waren dagegen. 48 Parlamentarier enthielten sich - sie werden bei der Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse nicht mitgezählt.

Grundlage des Votums ist ein kritischer Bericht, den die Grünen-Abgeordnete Judith Sargentini im Frühjahr im Auftrag des Parlaments erstellt hatte. Unter Berufung auf offizielle Befunde von den Vereinten Nationen, der OSZE oder dem Europarat ging dieser mit der Regierung unter dem rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orban hart ins Gericht. Es herrsche eine "systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn".

Der Bericht verwies auf Einschränkungen der Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit sowie auf eine Schwächung des Verfassungs- und Justizsystems und das Vorgehen der Regierung gegen Nichtregierungsorganisationen. Darüber hinaus werden in ihm Verstöße gegen die Rechte von Minderheiten und Flüchtlingen aufgezählt sowie Korruption und Interessenkonflikte kritisiert.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte dem Parlamentsvorstoß bereits seine Rückendeckung gegeben. "Artikel 7 muss dort, wo der Rechtsstaat in Gefahr ist, Anwendung finden", sagte er in seiner Regierungserklärung.

Ungarn nennt Votum "kleinliche Rache"

Das Votum des Europaparlaments sei die "kleinliche Rache" von einwanderungsfreundlich gesinnten Abgeordneten an Ungarn, erklärte Ungarns Außenminister Peter Szijjarto in Budapest.

Die Entscheidung sei durch Betrug zustande gekommen und widerspreche den Europäischen Verträgen. Bei der Auszählung seien Enthaltungen nicht mitgerechnet worden, was das Ergebnis verfälsche. Seine Regierung prüfe, dagegen zu klagen.

Einhaltung in allen Mitgliedsländern

Nach dem Votum des EU-Parlaments pocht die Bundesregierung auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in allen Mitgliedsländern.

"Die EU ist eine Wertegemeinschaft, und eine Wertegemeinschaft kann nur funktionieren, wenn alle die Werte achten und verteidigen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Im vorliegenden Fall gegen Ungarn sei es an der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft, das weitere Prozedere auf den Weg zu bringen.

Verfahren auch gegen Polen

Das Rechtsstaatsverfahren bezieht sich auf Artikel 7 der EU-Verträge. Ein solches Verfahren läuft seit Dezember bereits gegen Polen. Beratung und etwaige Entscheidung liegen beim Rat der Mitgliedsstaaten, der sich nun mit beiden Ländern befassen muss.

Das Verfahren kann theoretisch zum Entzug von Stimmrechten im Ministerrat führen. Die Hürden sind aber sehr hoch. Im Fall Polen gab es bisher nur eine Anhörung. Ungarn hatte bereits angekündigt, Sanktionen gegen Warschau mit seinem Veto zu blockieren.

Stimmrechtsentzug nach Artikel 7 EU-Vertrag
Der Entzug von Stimmrechten ist das schärfste Schwert der EU gegen ihre Mitgliedstaaten.

Hohe Hürden
Die Möglichkeit gibt es seit dem Reformvertrag von Amsterdam von 1999. Heute findet sie sich in Artikel 7 EU-Vertrag. Angedroht wurde diese Sanktion schon vielen Ländern. Das Verfahren soll der Abschreckung dienen, aber möglichst nie zum Einsatz kommen.

Stufe 1: Warnung
In einem ersten Schritt kann der Rat der Mitgliedstaaten eine Warnung an die betroffene Regierung aussprechen und eine "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" von europäischen Grundrechten feststellen. Hierzu sind nach einer Zustimmung des Europaparlaments vier Fünftel der Mitgliedstaaten nötig - dies wären 22 Staaten.

Stufe 2: Nötige Einstimmigkeit
In der zweiten Phase kann "auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments" das eigentliche Verfahren ausgelöst werden. Die anderen EU-Staaten müssen dabei einstimmig "eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung" europäischer Grundwerte feststellen. 

Stufe 3: Sanktionsbeschluss
Im nächsten Schritt kann dann die Entscheidung getroffen werden, "bestimmte Rechte auszusetzen (...) einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat". Möglich ist ein teilweiser Entzug von Rechten oder ein komplettes Abstimmungsverbot, was praktisch einer Aussetzung der aktiven EU-Mitgliedschaft gleichkommt. Seine Verpflichtungen gegenüber der EU einschließlich der Beitragszahlungen muss das Land aber weiterhin erfüllen.

Nötig für den Sanktionsbeschluss ist eine qualifizierte Mehrheit im EU-Rat. Dies wären 20 Mitgliedstaaten, die für mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung abzüglich der Bürger des betroffenen Landes stehen. Um die Sanktion zu lockern oder wieder aufzuheben, ist ein Beschluss mit der gleichen Mehrheit nötig.

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