Interview

Dorf für Demenzkranke in den Niederlanden "Sie verstehen die Welt nicht"

Stand: 11.12.2013 10:34 Uhr

Die G8-Staaten treffen sich in London, um über Demenz zu sprechen. Das niederländische Dorf De Hogeweyk macht vor, dass auch Demenzkranke ein weitgehend normales Leben führen können. Innovations-Managerin van Amerongen erzählt im tagesschau.de-Interview, wie das geht.

tagesschau.de: Sie sind Managerin eines Dorfes für Demenzkranke. Was ist das Besondere an diesem Dorf?

Yvonne van Amerongen: Das Besondere ist, dass nichts besonders ist. Im Grunde ist es ein normales Dorf. Aber wenn man bedenkt, dass es sich hier um ein Pflegeheim handelt, ist natürlich gerade die Normalität das Besondere. Wenn ich hier im Büro aus meinem Fenster schaue, sehe ich einige Bewohner, die gerade aus der Mall kommen, wo es ein Café gibt, einen Supermarkt, ein Restaurant und einen Clubraum. Wir haben ganz normale Wohnhäuser, ein Theater, einen Springbrunnen, einen Frisör und einen Ticketservice, wo man Karten für Veranstaltungen in unserem Theater kaufen kann. Wir versuchen den Bewohnern hier ein weitgehend normales Leben zu ermöglichen, wie sie es von früher kennen.

Zur Person
Yvonne van Amerongen ist Managerin für Innovation in der niederländischen Pflegeeinrichtung De Hogeweyk, in der Kleinstadt Weesp, rund 20 Kilometer von Amsterdam entfernt. 1992 hatte die Sozialarbeiterin gemeinsam mit einer Kollegin die Idee, dass auch pflegebedürftige Menschen weiter mit Gleichgesinnten leben können sollten. Daraus entwickelten sie das Pflegekonzept des Demenzdorfes, das jetzt auch in anderen Ländern Nachahmer findet. Im rheinland-pfälzischen Alzey soll 2014 das erste deutsche Demenzdorf eröffnet werden. Und auch in der Schweiz gibt es ähnliche Pläne.

tagesschau.de: Wie schaffen Sie das?

Van Amerongen: Die Menschen, die hier leben, sind wirklich ernsthaft demenzkrank. Sie verstehen die Welt draußen nicht mehr. Wenn sie draußen in einen Supermarkt gehen, nehmen sie sich vielleicht eine Flasche Wein mit oder eine Tafel Schokolade. Aber sie verstehen nicht, dass sie dafür auch bezahlen müssen. Dann erleben sie oft schreckliche Situationen, weil die Polizei gerufen wird.

Wenn eine Frau in unserem Dorf im Supermarkt etwas mitnimmt, ist das kein Problem. Die Angestellten rufen dann die Betreuer der betreffenden Wohnung an und sagen, was die Frau mitgenommen hat. Dann wird die Flasche Wein entweder zurückgebracht, oder - wenn die Bewohnerin sie wirklich haben möchte - wird sie auf eine Rechnung gesetzt, die dann die Angehörigen bekommen. Die Mitarbeiter hier kennen alle 152 Bewohner und wissen, wie sie mit Demenzkranken umgehen müssen.

"Wir lösen Probleme erst dann, wenn Sie da sind"

tagesschau.de: Die Bewohner können jederzeit Alkohol kaufen?

Van Amerongen: Ja natürlich. Wir versuchen, allen hier so viel Freiheit wie möglich einzuräumen. Und wir handhaben das so wie im normalen Leben. Wenn Sie zu viel trinken würden, würde ja auch ihr Umfeld reagieren, ihr Partner oder ihre Familie. Die würden versuchen, mit Ihnen zu sprechen oder vielleicht mit dem Besitzer der Kneipe, in die Sie gehen. So machen wir das hier auch. Wenn wir wissen, dass jemand ein Problem mit Alkohol hat, dann sind die Betreuer hier informiert und verhalten sich entsprechend. Aber wir lösen Probleme erst dann, wenn sie da sind und versuchen nicht schon vorher unnötig etwas zu verbieten.

G8-Länder wollen Demenz stärker bekämpfen
Die acht wichtigsten Industrienationen (G8) wollen ihre Anstrengungen im Kampf gegen die Volkskrankheit Demenz verstärken. Nach einem Gipfeltreffen in London hieß es in der Abschlusserklärung der G8-Gesundheitsminister, man verpflichte sich dem Ziel, bis 2025 ein wirksames Medikament zur Heilung von Demenz oder zur wirksamen Verbesserung der Symptome zu entwickeln. Gleichzeitig wolle man die Forschungsausgaben deutlich steigern. Alle zwei Jahre solle auf G8-Ebene über die Forschungsergebnisse berichtet werden. Ein internationaler Forschungsfahrplan soll gemeinsam erarbeitet werden.

tagesschau.de: Verlaufen die Bewohner sich nicht manchmal?

Van Amerongen: Das ist kaum möglich. Es gibt zwar keine Mauer, aber die Häuser sind so angeordnet, dass sie eine Art Grenze nach draußen bilden. In der Mitte des Dorfes sind die Geschäfte, das Theater, mehrere Plätze. Wenn die Bewohner herumlaufen, kommen sie immer wieder an den Punkt zurück, von dem sie losgelaufen sind.

Und wir haben sehr viel Platz zum Spazierengehen, auf der Promenade oder im Park. Es ist sehr wichtig für Demenzkranke, dass sie viel Bewegung haben, frische Luft und Tageslicht. Außerdem haben sie so den ganzen Tag soziale Kontakte. Weil sie viel draußen sein können, begegnen sie ja immerzu anderen Menschen.

"Die Menschen bleiben länger mobil"

tagesschau.de: Aber sie können das Dorf nicht verlassen?

Van Amerongen: Zumindest nicht so einfach. Wir haben nur einen Ein- und Ausgang, und der ist immer bewacht. Aber für unsere Bewohner ist es zu gefährlich, allein nach draußen zu gehen. Sie verstehen nicht mehr, wie die Welt da draußen funktioniert. Wenn sie wirklich raus möchten, dann organisieren wir jemanden, der sie begleitet. Aber meistens ist es so, dass die Menschen, die zum Ausgang kommen, gar nicht wirklich raus wollen. Sie kommen beim herumlaufen zufällig zum Ausgang. Und wenn man ihnen dann sagt, sie sollen auf der anderen Seite weiterlaufen, dann machen sie das meist ohne Probleme.

tagesschau.de: Wie wirkt sich das Leben in ihrem Dorf auf die Demenzkranken aus?

Van Amerongen: Die Menschen bleiben länger mobil, weil sie viel Bewegung haben, dadurch bauen sie nicht so schnell ab. In anderen Pflegeheimen ist das schwieriger, weil die Umgebung nicht so sicher ist. Und dann werden die Menschen oft ärgerlich oder aggressiv. Die meisten Menschen hier sind hingegen sehr entspannt. Außerdem bleiben sie geistig fit, weil sie in viele Aktivitäten eingebunden sind wie Singen und Handarbeiten, oder sie helfen beim Kochen oder Tischdecken.

"Wir haben weniger Probleme mit Aggressionen"

tagesschau.de: Heißt das, Sie haben keine Probleme mit Aggressionen? Die gehören ja zum Krankheitsbild bei Demenz.

Van Amerongen: Natürlich haben auch unsere Bewohner Aggressionen oder Depressionen. Dagegen gibt es auch kein pauschales Rezept. Psychologen und Sozialarbeiter erarbeiten in jedem Einzelfall einen individuellen Fahrplan für den Patienten. Aber wir haben weniger Probleme damit, weil die Menschen bei uns weniger Irritationen und weniger Beschränkungen ihrer Freiheit erleben.

tagesschau.de: Stimmt es, dass sie weniger Beruhigungsmedikamente brauchen als Demenzkranke in anderen Pflegeheimen?

Van Amerongen: Das kann ich so nicht bestätigen. Die Menschen hier sind ja immer noch demenzkrank und das können wir auch nicht heilen. Was wir bieten können, ist eine hohe Lebensqualität. Trotzdem brauchen die Menschen professionelle Behandlungen von Ärzten und Physiotherapeuten und auch Medikamente.

"Die Welt ist nicht freundlich zu Demenzkranken"

tagesschau.de: Kritiker sagen, das Dorf sei wie ein Ghetto, in dem die Demenzkranken isoliert werden.

Van Amerongen: Diese Kritik höre ich immer nur von Deutschen. Wir wollen einfach so viel Lebensqualität wie möglich für unsere Bewohner. Und die haben sie dort, wo sie sicher sind wo sie das Gefühl haben, wirklich willkommen zu sein. Das ist draußen nun mal nicht so. Die Welt versteht Demenzkranke nicht und die Welt ist auch nicht freundlich zu ihnen. Also haben wir gesagt, wir schaffen einen Ort, wo sie gut behandelt werden und laden die Menschen von draußen ein. Und die kommen auch. Zum Beispiel Familien mit kleinen Kindern, die in der Nähe wohnen, kommen zum spielen. Andere gehen in unser Restaurant oder ins Theater.

tagesschau.de: Manche kritisieren auch, dass ältere Menschen meist am liebsten zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung bleiben möchten. In Ihrem Dorf leben sie hingegen in einer für sie völlig neuen Welt.

Van Amerongen: Das stimmt. Es entspricht auch der niederländischen Gesundheitspolitik, dass die Menschen so lange wie möglich zu Hause betreut werden sollen. Aber es gibt Demenzkranke, bei denen das nicht mehr geht, weil sie rund um die Uhr betreut werden müssen. Nur für die ist unser Dorf.

Und damit sie sich hier nicht so fremd fühlen, haben wir keine Krankenzimmer, sondern ganz normale Häuser gebaut. Die 23 Wohnungen sind verschiedenen Lebensstilen nachempfunden. Bevor jemand zu uns kommt, wird genau untersucht, wie er früher gelebt hat. Und dann kommt er in eine WG mit Bewohnern, die ähnliche Normen und Werte haben. So leben die Bewohner zwar nicht in ihrem alten Zuhause, aber es fühlt sich so ähnlich an.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

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