Interview

Interview zu Dublin-System "Praktisch denken, ohne Asylrecht zu gefährden"

Stand: 05.04.2016 18:06 Uhr

Das alte Dublin-System gilt als gescheitert. Europa braucht eine Asylbehörde mit einheitlichen Standards, sagt Migrationsforscher Klaus Bade im Gespräch mit tagesschau.de. Ansonsten drohe auch beim Asylrecht die Spaltung - in ein Kerneuropa und ein Randeuropa.

tagesschau.de: Warum ist die Dublin-Verordnung gescheitert?

Klaus J. Bade: Dublin war im Grunde von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Denn es gab zwar die Grundregel, dass Asylsuchende ihre Anträge in dem Land stellen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten. Aber es gab sehr unterschiedliche Asylstandards in den einzelnen Ländern und eine absehbare Überlastung der Hauptzugangsstaaten. Deutschland und auch Frankreich haben darauf bestanden, dass das System trotz dieser Startmängel in Gang gebracht wird. Für die Mitte Europas war das ein bequemes System, wenn es denn funktioniert hätte. Denn dann wäre etwa Deutschland für Flüchtlinge kaum erreichbar gewesen.

Deutschland und Frankreich haben daher lange hartnäckig gegen eine Reform dieses Systems votiert, bis es schließlich in sich zusammenbrach unter Zuwanderungsdruck und wegen des "Durchwinkens" von Asylsuchenden ohne Registrierung und Antragstellung. Heute ist Dublin klinisch tot.

Klaus J. Bade
Zur Person
Prof. Dr. Klaus J. Bade ist Migrationsforscher, Publizist und Politikberater. Er lehrte bis 2007 Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und lebt seither in Berlin.
Er war Begründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, des bundesweiten Rates für Migration und Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Für sein Engagement hat er diverse Auszeichnungen erhalten, u.a. das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse.

tagesschau.de: Was meinen Sie konkret mit unterschiedlichen Asylstandards?

Bade: In Griechenland lebten die Menschen auf der Straße. Sie wurden nicht ordentlich verpflegt und beraten. Griechenland konnte keine Asylverwaltung bezahlen, die einigermaßen europäischen Ansprüchen genügt hätte. Im Vergleich dazu war die deutsche Asylverwaltung ein Paradies. Deswegen wollten die Menschen, die Asyl suchten, nicht in Griechenland einen Antrag stellen. Sie wollten dort nicht hängen bleiben. Inzwischen stellen sie dort Anträge, weil sie hoffen, dass sie so ihre Abschiebung in die Türkei - falls sie dort her gekommen sind - verzögern können. Das ist eine völlig andere Situation.

"Ein lebender Leichnam"

tagesschau.de: In der aktuellen Krise hat sich Dublin als untauglich erwiesen. Warum?

Bade: Vor allem aus zwei Gründen: Erstens wird das europäische Asylrecht derzeit von Rückschiebeabkommen überlagert, wie es sie nicht nur aktuell zwischen der EU und der Türkei, sondern seit langem zum Beispiel auch zwischen Spanien und westafrikanischen Staaten gibt. Zweitens fehlt es an der Bereitschaft zur Lastenteilung in vielen europäischen Staaten. Das gilt nicht nur im Blick auf die Entlastung der 2015 durch die Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchenden überlasteten Bundesrepublik Deutschland. Und dort, wo es sehr begrenzte Einigungen auf eine Verteilung von Flüchtlingen in Europa gab, zum Beispiel in einer Größenordnung von zunächst 40.000, dann 160.000, da wurden diese Vereinbarungen nur ansatzweise oder auch gar nicht umgesetzt. Ein unter solchen Bedingungen wiederbelebtes Dublin-System wäre kaum mehr als ein lebender Leichnam.

tagesschau.de: Hätte denn Dublin in dieser Krise funktionieren können?

Bade: Es hätte nur dann funktioniert, wenn die Asylsuchenden in den Erstzugangsländern registriert worden wären, wenn sie ihre Fingerabdrücke dort gelassen hätten. Wenn sie dann einen Asylantrag in einem anderen Land gestellt hätten, hätte man sie ins Erstzugangsland zurückschicken können. Aber auch das hat nicht geklappt, weil Deutschland sich zum Beispiel in zunehmendem Maße genötigt sah, „Dublin-Fälle“ nicht mehr nach Griechenland zurückzuschicken. Zudem haben oft auch die auf dem Weg nach Deutschland anschließenden Staaten die Flüchtlinge nicht registriert, sondern weitergeleitet. Von dem Moment an hatte sich das System ad absurdum geführt, der Massenandrang tat dann noch ein Übriges.

Die Dublin-Verordnung
Die Flüchtlingsfrage wurde 1990 im Dubliner Übereinkommen geregelt und 2003 durch die Dublin-Verordnung abgelöst. Seit 2013 gilt die Dublin-III-Verordnung. Sie regelt, welcher Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags innerhalb der EU zuständig ist. Damit soll sichergestellt werden, dass ein Antrag innerhalb der EU nur einmal geprüft wird. Ein Flüchtling muss dort Asyl beantragen, wo er den EU-Raum erstmals betreten hat. Das geschieht häufig an den Außengrenzen. Ziel der Initiative war es ursprünglich, die Asylverfahren zu beschleunigen und gleichzeitig klarzustellen, welcher Mitgliedstaat verantwortlich ist.

Stabilisierung der Aufnahmeländer

tagesschau.de: Was muss sich an Dublin ändern? Wie muss das neue System aussehen?

Bade: Europa allein kann die Flüchtlingskrise nicht schultern. Wir brauchen eine UN-Weltflüchtlingskonferenz, am besten verbunden mit einer Welt-Flüchtlingsdekade. Wir brauchen eine Stabilisierung der Aufnahmeländer von Flüchtlingen an den Rändern der Krisenzonen und das Bemühen um eine Begrenzung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen in den Krisenzonen selbst. Alles andere ist kurieren am Symptom.

tagesschau.de: Morgen will die EU-Kommission Vorschläge für eine Reform des bestehenden Systems vorstellen. Eine Option ist offenbar die Gründung einer europäischen Asylagentur.

Bade: Das fordere ich schon seit Jahren. Diese Agentur würde mit allen Behörden in den Ländern verbunden sein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge würde seine Datensätze dorthin liefern und mitteilen, wie viele Plätze verfügbar sind. Zusätzlich könnte man eine europäische Arbeitsagentur einführen. So könnte man schauen, ob es Menschen unter den Flüchtlingen gibt, die aufgrund ihrer Qualifikation in dem einen oder anderen Land gerade gesucht werden. Man muss das praktisch denken, ohne das Asylrecht zu gefährden.

tagesschau.de: Schafft man es damit, auch Länder wie Polen, die derzeit keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, mit ins Boot zu holen?

Bade: Das ist keine rechtliche, sondern eine machtpolitische und auch eine ideologische Frage.  Solange sich die  rechtskonservative polnische Regierung auf die  fremdenfeindliche Stimmung im Land beruft, die sie zu weiten Teilen selber schafft, wird es hier wenig Chancen geben. Letztlich wird irgendwann gefragt werden müssen, ob Länder, die zwar die reichen Gaben Europas gern entgegennehmen, sich aber einer Lastenteilung verweigern  wollen, nicht nachdrücklicher zur Ordnung gerufen werden müssen.

"Das wäre verheerend"

tagesschau.de: Als eine Option wird Berichten zufolge auch ein Festhalten am bestehenden Dublin-System mit einem "korrigierenden Fairness-Mechanismus" vorgeschlagen. Dieser Mechanismus zur Verteilung von Asylbewerbern innerhalb der EU soll immer dann ausgelöst werden, wenn ein Mitgliedsstaat bei der Aufnahme von Asylbewerbern überfordert ist. Halten Sie das für sinnvoll?

Bade: Das setzt ein Höchstmaß an Freiwilligkeit voraus. Doch die fehlt, es gibt nach wie vor Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Dann dreht sich die Sache aber wieder im Kreis, weil es nur die gleichen Staaten sind, die bereit sind, entsprechende Entlastungen zu übernehmen. Wir brauchen eine Einigung der Staaten insgesamt. Ohne eine Einigung schaffen wir eine Art asylrechtliches Kerneuropa. Wenn Europa sich in den wesentlichen Punkten auf einen kleineren Kern zurückzieht, löst das einen Prozess aus, der auf die Dauer nicht gut gehen kann. Denn dann schaffen wir ein europäisches Asylrecht ersten und zweiten Ranges: ein Asylrecht für Kerneuropa und eins für Randeuropa. So war die Europäische Union nicht gedacht. Das wäre verheerend.

tagesschau.de: Was wäre wünschenswert?

Bade: Der Idealfall wäre, wir hätten in Europa einheitliche Standards und Kriterien. Dann könnten sich Flüchtlinge sogar das Asylland aussuchen. Sie könnten zum Beispiel zwei Länderwünsche äußern. Die europäische Asylagentur könnte mitteilen, ob eines der beiden Wunschländer die Flüchtlinge aufnehmen kann. Würden beide Wunschländer passen, dann müssten die Antragsteller sich verteilen lassen oder auf ihre Asylanträge verzichten.

Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.

Das Interview führte Barbara Schmickler

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