Interview

Labour-Abgeordnete zur Abstimmung "Cameron steckt zwischen Baum und Borke"

Stand: 01.11.2012 14:07 Uhr

Gegen Europa und gegen Cameron: Abgeordnete der regierenden Konservativen und der oppositionellen Labour-Partei ließen den Vorschlag des britischen Premiers durchfallen, die EU-Ausgaben einzufrieren. Im Interview mit tagesschau.de erklärt die Labour-Abgeordnete Gisela Stuart die Gründe für diese Allianz.

tagesschau.de: Eine Mehrheit im britischen Parlament hat dafür gestimmt, die britischen EU-Ausgaben zu kürzen. Der britische Premier David Cameron aber wollte den Betrag einfrieren. Wie groß ist diese Niederlage für Camerons Europa-Politik?

Gisela Stuart: Cameron hat eine bedeutende Niederlage hinsichtlich seiner Europa-Politik und seiner eigenen Autorität innerhalb der eigenen Partei erlitten. Europa ist für die Konservativen das Thema, das die Partei im Kern sprengt. Camerons eigene Hinterbänkler sind nicht mehr bereit, mit ihm Kompromisse zu schließen. Dabei weiß Cameron genau, dass er im Europäischen Rat kaum eine Kürzung der Ausgaben durchsetzen wird. Von daher werden seine eigenen Leute nie damit zufrieden sein, was er mit nach Hause bringt. Das ist für ihn eine sehr schwierige Position.

Zur Person
Seit 1997 sitzt Gisela Stuart für die Labour-Partei im britischen Parlament. Geboren wurde Stuart in Velden in Bayern.1974 ging sie nach Großbritannien und studierte in Manchester, London und Birmingham. Zu ihren politischen Schwerpunkten zählen Fragen der Altersvorsorge und der internationalen Beziehungen.

Weder Regierung noch Opposition denken strategisch

tagesschau.de: Inwieweit ist Ihre Labour-Partei Nutznießerin dieser schwierigen Position?

Stuart: Es liegt in der Natur der Opposition, gegen die Regierung zu sein. Aber die Schwierigkeit der Labour-Partei liegt nicht in dieser aktuellen Abstimmung, die durchaus eine taktische Komponente aufweist. Wirklich problematisch ist, dass auch wir von Labour über die Rolle des Vereinigten Königreichs und die Zukunft der gesamten Europäischen Union bislang nicht strategisch nachgedacht haben. Das wird in den täglichen Auseinandersetzungen zu häufig vergessen.

Wir sind in einer Situation, in der weder Regierung noch Opposition dieser dringenden Aufgabe nachkommen. Das hat womöglich historische Gründe. Großbritannien hat seit dem Maastrichter Vertrag ein ganz großes Problem mit Europa, aber beide Parteien hoffen darauf, dass niemand darüber spricht. Ende der 90er-Jahre war es Tony Blair, der für eine kurze Zeit wirklich engagiert war. Aber diese Periode endete mit dem Beginn des Irak-Kriegs.

Parlamentspräsident Cavaco Silva und die Außenminister der Niederlande, Ruud Lubbers, und Deutschlands, Hans-Dietrich Genscher, und der Präsident der EG-Kommission, Jaques Delors, am 7.2.1992

1992 wurde der Vertrag von Maastricht noch gefeiert.

Gefahr Volksabstimmung

tagesschau.de: Schaden Sie mit dieser Allianz von Konservativen und Labour dem Ansehen Großbritanniens in Europa, das ja ohnehin nicht ganz so groß ist?

Stuart: Die Briten müssen zunächst für ihre eigene Einheit kämpfen. So werden die Schotten in einer Volksbefragung über ihre Unabhängigkeit entscheiden. Darin liegt eine große Gefahr, die im Ausland kaum wahrgenommen wird.

Auf europäischer Ebene habe ich Schlimmeres als jetzt noch nie erlebt. Der Rest Europas verliert das Interesse an Großbritannien. Die Deutschen erleben das Wiedererwachen aller hässlicher Vorurteile. Was ich aus Griechenland und Italien höre wie auch von manchem polnischen Politiker, ist äußerst unangenehm. Die Briten waren immer der Sündenbock der EU - was wäre alles einfach, wenn es bloß die Briten nicht gäbe! Ich glaube aber, dass die momentane Krise erheblich tiefer geht. Es geht nicht nur um Großbritannien, es geht auch um die Länder des Kontinents.

Gegen Europa und gegen Cameron

tagesschau.de: Welcher Anteil des Abstimmungsergebnisses richtet sich gegen Europa und welcher gegen Cameron?

Stuart: Auf der Labour-Seite ist man bereit, Mängel an der Europäischen Union aufzudecken. Und das ist für uns dann kein Anlass für hämische Freude. Wir sind instinktiv eine Partei, die international engagiert ist. Auf der konservativen Seite haben ein Drittel, wenn nicht die Hälfte der Abgeordneten ein großes Problem mit Europa, mit dem ganzen Konzept der EU.

"Ihr seid ja verrückt"

tagesschau.de: Wenn die EU-Ausgaben tatsächlich gekürzt werden - dreht man damit der europäischen Idee den Saft ab?

Stuart: Einem britischen Steuerzahler können Sie nicht erklären, dass die Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Sicherheit gekürzt werden, aber die für die Europäische Union nicht. Das können wir nicht verantworten. Unsere Wähler schauen uns an und sagen: Ihr seid ja verrückt! Cameron steckt zwischen Baum und Borke. Vielleicht bleibt ihm nichts anderes übrig, als von seinem Veto-Recht Gebrauch zu machen.

tagesschau.de: Im November wollen die Staats- und Regierungschef auf einem Gipfel über die europäische Haushaltspolitik beraten. Wird sich die Lage bis dahin ein wenig beruhigen? Oder wird der Widerstand wachsen?

Stuart: In den kommenden Wochen wird sich wenig ändern. Der wichtigste Termin der nächsten Zeit ist die Wahl in Deutschland. Nach dieser Wahl werden wir Entwicklungen in den Euro-Ländern erleben, die die ganze europäische Geometrie auf den Kopf stellen.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de

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