Alexander Lukaschenko umarmt bei einem Auftritt in Vitebsk ein Mädchen in belarussischer Tracht (Foto vom Juli 2020).
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Belarus "Väterchen" beschützt nicht mehr

Stand: 10.08.2020 13:59 Uhr

Belarus galt als "letzte Diktatur Europas". Nun breiten sich Proteste einer lebendigen Opposition über das Land aus. Präsident Lukaschenkos Methoden und Rhetorik verfangen aus gutem Grund nicht mehr.

Eine Analyse von Jasper Steinlein, ARD-aktuell

Eine unerfahrene Oppositionskandidatin, die in kürzester Zeit viele Wählergruppen hinter sich vereinigt, ein einzelner Demonstrant, der während der Nachwahl-Proteste ein Polizeiauto zurückdrängt: Plötzlich scheint im seit 26 Jahren von Alexander Lukaschenko regierten Belarus, das zugespitzt oft als "letzte Diktatur Europas" bezeichnet wird, alles anders als sonst - und genau das könnte den neun Millionen Belarussen zum Risiko werden.

Als Präsident setzt Lukaschenko seit jeher auf eine Mischung aus harter Hand und zur Schau gestellter Volksnähe: Er lässt sich mal in Militäruniform, mal mit Trachtenhemd im Weizenfeld fotografieren und "Batka" ("Väterchen") nennen - und sorgt dafür, dass alle wichtigen Entscheidungen durch staatliche Hände gehen, politische Gegner inhaftiert und Protestbewegungen diffamiert und zerschlagen werden.

Doch anders als zuletzt 2017, als die Belarussen gegen eine geplante "Sozialschmarotzer"-Steuer für Arbeitslose protestierten, ebben die Proteste bislang nicht ab, sondern wuchsen sich zur einer breiten Oppositionsbewegung aus, aus der mit Swetlana Tichanowskaja auch eine Präsidentschaftswahl-Kandidatin hervorging. "Es sind Menschen politisiert worden, die sich nie für Politik interessiert haben", erklärt Olga Dryndova von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen.

Versagen in der Coronakrise verärgerte Belarussen

Diese Politisierung der breiten Bevölkerung, die sich zuvor lieber stumm mit den Verhältnissen arrangiert hatte, führt sie auf drei Gründe zurück: Erstens hätten staatliche Organe und allen voran Lukaschenko in der Pandemie das Vertrauen der Bevölkerung verspielt, indem sie erst mit Leugnung und dann mit Aggressionen reagierten: Statt die Bevölkerung über die Ansteckungsgefahr zu informieren und Kapazitäten in den Polikliniken zusammenzuziehen, tat Lukaschenko das Coronavirus als "Psychose" ab, empfahl Wodka oder Traktorfahren als Gegenmittel und gab Betroffenen selbst die Schuld für ihre Erkrankung - auch, wenn sie tödlich verlaufen war. "Die Menschen haben dann verstanden, dass der Staat einfach nicht in der Lage ist, ihnen gesundheitliche Sicherheit zu geben", sagt Dryndova.

Zweitens sei in der Corona-Krise die wirtschaftliche Lage nach dem Empfinden der Menschen so schlecht wie seit zwanzig Jahren nicht. In einem Land, in dem schon 2018 das Gehalt von sechzig Prozent der Menschen nur für Essen, Kleidung und das nötigste reichte, schlügen die ökonomischen Folgen der Pandemie besonders hart zu.

Drittens hätten die Menschen sich im Wahljahr - nach dem Motto "Alle außer einem" - nach Alternativen gesehnt; doch aussichtsreiche Oppositionelle wie der frühere Bankier Viktor Babariko oder der Ex-Botschafter von Belarus in den USA, Valerij Zepkalo, wurden nicht zur Wahl zugelassen. Mit Tichanowskaja und ihren Mitstreiterinnen Weronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa traten "neue Gesichter" auf die politische Bühne, die Lukaschenko unterschätzte. Doch "die extreme Unzufriedenheit und der Ärger der Menschen waren noch da und wurden in die Politik transportiert", sagt Dryndova.

Tichanowskaja ist kein Profi - und deshalb glaubwürdig

Dass die 37-jährige Hausfrau Tichanowskaja, die anstelle ihres inhaftierten Ehemanns Sergej Tichanowskij in den Wahlkampf eintrat, so schnell so populär wurde, ist laut Franak Viacorka kein Zufall: "Sie ist im Grunde das Gegenteil von Lukaschenko", sagt der Minsker Journalist und Medienberater, der seit den vergangenen Tagen von der ukrainischen Hauptstadt Kiew aus über die Lage in Belarus berichtet. Dass sie nach eigenen Angaben keinerlei politischen Karriereambitionen hat und mit einem einzigen Versprechen antrat - nämlich nur sechs Monate zu amtieren, um in dieser Zeit den Weg für Neuwahlen zu ebenen - mache sie für viele Wähler glaubwürdiger als die alte Machtelite: "Ihre Persönlichkeit ist sehr gemeinschaftsbildend und inspirierend für viele junge Leute - sie ist ein Zeichen für die Zukunft", beschreibt er.

Sowohl Viacorka als auch Dryndova betonen: Was derzeit geschieht, sei einmalig in der Geschichte von Belarus. Etwa, dass Wahlkampfveranstaltungen der "drei Grazien" auch in den Provinzstädten Hunderte und Tausende Menschen angezogen hätten. Ebenso, dass die 85 Wahllokale, in denen Tichanowskaja auch nach offiziellem Ergebnis nach siegte, sich überhaupt getraut hätten, die Stimmen korrekt auszuzählen.

Nicht zuletzt zeigt auch der Erfolg eines Frauenteams, das Lukaschenko immer wieder als Heimchen am Herd trivialisiert hatte: "Väterchens" Rhetorik kommt heute nicht mehr an. "Sie ist tatsächlich aus der Zeit gefallen. Lukaschenko wirkt wie ein alter, sowjetischer Bürokrat, ein brutaler Mann - wie jemand aus der Vergangenheit", sagt Viacorka.

Kolesnikowa, Tichanowskaja und Zepkalo bei der der Kundgebung

Gegen die "Drei Grazien" von der Opposition wirkt Präsident Lukaschenko aus der Zeit gefallen, sind sich auch belarussische Politikexperten einig.

Polizisten weigern sich, gegen Landsleute vorzugehen

Zwar weiß Lukaschenko noch immer den mächtigen Staatsapparat aus Ministerien, Geheimdienst KGB und Sicherheitskräften hinter sich - doch auch das ändert sich gerade: In etlichen kleinen Städten weigerten sich Polizisten während der Proteste nach der Wahl, gegen ihre Landsleute hart vorzugehen. Fälle von Polizeigewalt, die über Messenger-Dienste wie Telegram und Twitter ans Licht kommen, diskreditieren das Regime auch in dem Teil der Bevölkerung, der sich bislang zurückhält.

Die Opposition ist bislang noch keine organisierte Bewegung, doch das Anschlusspotenzial ist riesig: Lukaschenko habe selbst den Glauben des Volks an sich gebrochen, meint Dryndova: "Er kann sagen, was er will, aber die Menschen werden es nicht mehr glauben. Seine Appelle richten sich mehr an die Sicherheitsorgane, auf den er sich stützt."

Greift der Kreml militärisch in Belarus ein?

Ob nun im seit Jahrzehnten wie erstarrt wirkenden Belarus ein echter Wandel einsetzt, hängt längst nicht nur von der Opposition und Lukaschenko ab: Belarus ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geopolitisch in hohem Maß vom Nachbarstaat Russland abhängig - und dessen Präsident Wladimir Putin kann eine demokratische Revolution in der Moskauer Einflusssphäre nicht gefallen.

Putin und Lukaschenko hätten zwar das selbe Politikverständnis vom "Land als ihrem Privatbesitz", wie Viacorka es umschreibt - und Putin war der erste Gratulant nach dem jüngst proklamierten Wahlsieg. Doch nicht erst seit der Festnahme russischer Söldner auf belarussischem Territorium treten Spannungen zwischen den Nachbarstaaten öffentlich zutage. "Selbst wenn Lukaschenko an der Macht hat, ist er kein Garant für Belarus' Unabhängigkeit mehr", sagt Viacorka dazu. Die rhetorische Abgrenzung vom Kreml sei nur eine Farce, während Lukaschenko zugleich eine "symbiotische Beziehung" mit ihm geschaffen habe. Könnte Moskau bei anhaltender Unruhe auch in Belarus militärisch eingreifen? "Nichts ist ausgeschlossen, alles ist möglich", meint Viacorka.

Zumindest die belarussische Bevölkerung lässt sich aus der Sicht von Olga Dryndova davon jedoch nicht mehr einschüchtern: Das Bedrohungsszenario, dass ein "Minsker Maidan" nach dem Vorbild der Ukraine Belarus erst ins Chaos und dann in einen Krieg stürzen könnte, werde schon seit den Wahlen von 2015 instrumentalisiert. "Damals hat das funktioniert, weil der Ausbruch der Ukrainekrise zeitlich sehr nah war; weil die Menschen diese schrecklichen Bilder aus der Ukraine gesehen und Angst bekommen haben", sagt Dryndova. "Es gab dieses Sicherheitsbedürfnis - das der Präsident allerdings selbst gebrochen hat, indem er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat während er Pandemie."

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