Muhammed al-Dscholani
interview

Neue Machthaber in Syrien "Diszipliniert und professionell"

Stand: 11.12.2024 14:25 Uhr

Die Rebellengruppe HTS hat die Macht in Syrien mit Disziplin übernommen, sagt Experte Wimmen. Das erinnere an eine professionelle Armee. Nun könne auch die Regierungsbildung gelingen - wenn bestimmte Kriterien erfüllt seien.

tagesschau.de: Die Rebellengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) scheint derzeit die bestimmende Kraft in Syrien zu sein. Wie homogen ist die Organisation?

Heiko Wimmen: Nach allem, was wir wissen, ist die HTS sicherlich sehr homogen. Ihr Anführer Abu Muhammad al-Dscholani hat jahrelang daran gearbeitet, die extremeren Elemente in der Gruppe entweder loszuwerden oder zu disziplinieren.

Wir haben in der militärischen Kampagne gesehen, dass sie sehr diszipliniert vorgegangen sind. Dass sie auch mit der Zivilbevölkerung derart korrekt umgegangen sind, zeugt von einer Disziplin, die man normalerweise nur bei einer professionellen Armee erwartet. So etwas muss über Jahre eingebläut werden. Sehr viele der jungen Männer haben sicherlich eine dschihadistische Vergangenheit - aber es scheint gelungen zu sein, sie auf die neue Linie einzuschwören.

Heiko Wimmen
Zur Person
Heiko Wimmen ist Projektleiter für Syrien, den Irak und den Libanon bei der International Crisis Group in Beirut. Zuvor arbeitete er unter anderem für die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und für die Heinrich-Böll-Stiftung im Libanon.

Drei weitere Rebellengruppen als Teil der Kampagne gegen Assad

tagesschau.de: Welche inländischen Gruppierungen sind derzeit noch von Relevanz?

Wimmen: Als Juniorpartner der HTS haben wir die Syrische Nationale Armee, kurz SNA, die auch als türkische Marionette bezeichnet wird. Sie wird von der Türkei ausgerüstet, finanziert und wahrscheinlich auch zu einem gewissen Ausmaß befehligt. Sie sitzen im Norden vornehmlich, nördlich und östlich von Aleppo.

Dann gibt es die südlichen Rebellen - sie haben eine Art begrenzter lokaler Autonomie. Sie haben nun sehr schnell sehr viel Territorium eingenommen, auch weil es offensichtlich so gut wie keine Gegenwehr südlich von Damaskus gab. Ich bezweifle aber, dass sie über die Jahre ein ähnlich hohes Niveau militärisch erreicht haben wie HTS.

Und wir haben die Reste der Freien Syrischen Armee, die die Amerikaner in Al-Tanf unter ihren Fittichen hatten. Im Südosten des Landes ist eine US-Basis, vor allem, um die Hauptverbindungsstraße in den Irak zu kontrollieren. Dort hat die FSA überdauert, aber auch sie sind militärisch nicht mit HTS zu vergleichen. Das sind die, die sich nun an dieser Befreiungskampagne beteiligt haben.

Karte Syrien mit Aleppo, Idlib, Hama, Homs und Damaskus

"Noch unklar, ob Türkei Gewinner oder Verlierer ist"

tagesschau.de: Es gab Kämpfe zwischen der SNA und kurdischen Truppen. Wie sind sie einzuordnen?

Wimmen: Die Kurden kontrollieren vor allem das Gebiet östlich des Euphrat und sind dort ein US-Partner bei der Bekämpfung des IS. Die Amerikaner sollen nun den Rebellen von HTS und SNA signalisiert haben, nicht in die kurdischen Gebiete vorzurücken.

Aber es gab auch westlich des Euphrats ein kurdisch kontrolliertes Gebiet, aus dem die SNA nun die Kurden zu vertreiben versucht hat. Ich denke, die Kurden werden sich am Ende auf das Ostufer des Euphrat zurückziehen müssen. Zum einen, weil es der Türkei und den Rebellen in Damaskus nicht gefällt, und zum anderen, weil das Gebiet westlich des Euphrat von arabischen Stämmen und nicht von Kurden bewohnt wird.

tagesschau.de: Die Türkei wird gemeinhin als der große Gewinner der Entwicklungen in Syrien gesehen. Wenn die HTS nun von einem multi-ethnischen Staat spricht, der das Kurdengebiet in Syrien respektiert, läuft das nicht den türkischen Interessen entgegen?

Wimmen: Man weiß es tatsächlich noch nicht und kann zu sehr gegenteiligen Bewertungen kommen.

Einerseits kann man es so sehen: Al-Dscholani war bis vor zwei Wochen bestenfalls Provinzchef von Idlib und deutlich abhängiger von der Türkei, als er das jetzt ist. Nun kontrolliert er plötzlich einen Staat und kann relativ unabhängig von der Türkei agieren. Zudem muss es in seinem Interesse sein, mit den Kurden zu einer Lösung zu kommen, wenn er einen funktionierenden Föderalstaat aufbauen will. Das finden wahrscheinlich auch die Europäer und die US-Amerikaner grundsätzlich gut. Insofern kann man den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan als Verlierer betrachten.

Andererseits will al-Dscholani mit seiner Organisation nicht weiter sanktioniert und als Terrorist stigmatisiert werden. Da wird sich HTS jetzt möglicherweise auflösen und neu formieren. Damit die Nachfolgeorganisation nicht auch auf Sanktionslisten kommt, wird es eine große Rolle spielen, was die Türkei dazu sagt. Die Türkei ist ein NATO-Mitglied, der mächtigste Nachbar mit großem Einfluss in der Region, und al-Dscholani hat jeden Grund, es sich nicht mit der Türkei zu verscherzen.

Was die föderale Lösung angeht: Die Türkei hat ja auch gelernt, mit einem föderalen Irak, mit einem kurdischen Autonomiegebiet zu leben. Wenn sich ein kurdisches Autonomiegebiet nun in eine syrische Föderation einfügt, kann dieses auch keine separate Außenpolitik mehr betreiben und nicht auf eigene Faust militärisch aktiv werden. Dann werden an der türkisch-syrischen Grenze von Damaskus befehligte Soldaten stehen. Das kann nur im Interesse der Türkei sein.

Insofern ist noch unklar, ob die Türkei in erster Linie als Gewinner oder als Verlierer aus der syrischen Neuordnung hervorgeht. Die Frage, die sich zuerst stellt, ist, ob sich in Syrien überhaupt stabile Verhältnisse etablieren können.

"Erfolgsaussichten für Regierungsübergabe sind nicht schlecht"

tagesschau.de: Nun sollen dem HTS in Zusammenarbeit mit Syriens Ministerpräsidenten Mohammed al-Dschalali die Regierungsgeschäfte übergeben werden. Wie sehen Sie die Erfolgsaussichten dieses Prozesses?

Wimmen: Die Erfolgsaussichten für eine Regierungsübergabe sind grundsätzlich nicht schlecht. Man hat Teile der alten Machtstrukturen übernommen. Die bisherige Regierung ist offensichtlich bereit, mitzuarbeiten. Wenn die neuen Machthaber mit den bisherigen Leuten zusammenarbeiten, die nicht an Verbrechen beteiligt waren, dann ist das ein gutes Zeichen.

Dann ist die Frage, wen der Chef der Übergangsregierung, Mohammad al-Baschir, als Minister ernennt. Wenn er nur ehemalige Dschihadisten der HTS ernennt, wäre das kein gutes Zeichen. Aber er war zuvor Regierungschef des HTS-kontrollierten Gebiets in Idlib. Der Mann hat Erfahrung mit Regierungsführung.

Wenn ein Versuch der Inklusion gemacht wird, wenn also Leute mit anderem Hintergrund ernannt werden und nicht nur Sunniten, nicht nur Moslems, auch Säkuläre - und nicht nur als Feigenblätter, sondern mit richtigem Einfluss - dann wäre das ein sehr gutes Zeichen. Solche Signale in der Anfangsphase zu senden, ist kritisch, damit Vertrauen gewonnen wird.

Es kommt darauf an, dass nun schnell eine neue Verfassung geschrieben und eine verfassungsgebende Versammlung vorbereitet wird. Es kommt darauf an, dass schnell Kommunalwahlen stattfinden, damit die Leute überall gewählte Vertreter haben, die dann im weiteren Prozess eine Rolle spielen können. Wenn das geschieht, dann ist Syrien möglicherweise auf einem guten Weg.

"Sehe nicht, dass HTS herausgefordert werden kann"

tagesschau.de: Wie groß ist die Gefahr von libyschen Verhältnissen, von einem Auseinanderbrechen Syriens?

Wimmen: In der unmittelbaren Zukunft sehe ich diese Gefahr nicht. Wir haben jetzt eine Situation, in der mit HTS ein militärischer Akteur ganz klar im Sattel sitzt. Ich sehe im Moment nicht, dass der herausgefordert werden kann.

Die stärkste potenziell oppositionelle Gruppe sind die Kurden. Aber es ist nicht in ihrem Interesse, eine Abspaltung anzustreben, weil sie ganz genau wissen, dass der Versuch von der Türkei schon im Ansatz vereitelt werden würde. Es ist im Interesse der Kurden, zu einer föderalen Lösung zu kommen. Sie haben sich auch schon vorsichtig positiv geäußert.

Um hier zu libyschen Verhältnisse zu kommen, bräuchten wir ausländische Akteure, die ganz bewusst das Projekt der Staatsneubildung torpedieren wollen und können. Und es bräuchte interne syrische Akteure, an die diese externen Mächte andocken können. Die SNA im Norden käme vielleicht am ehesten als ein destruktiver Vektor für externe Akteure in Frage und könnten für die neuen Machthaber eine Herausforderung darstellen.

Der Einfluss anderer Staaten

tagesschau.de: Welche Staaten der Region werden denn versuchen, die Neuordnung Syriens zu beeinflussen?

Wimmen: Wenn jemand die SNA-Milizen im Norden für eigene Zwecke nutzen kann, dann ist das die Türkei. Aber Erdogan kann kein Interesse an einem zerfallenen Syrien haben. Zumal schon seit langem eines seiner großen Anliegen war, dass syrische Flüchtlinge aus der Türkei zurückkehren. Dafür braucht man aber Stabilität in Syrien.

Irans Möglichkeiten, auf Akteure in Syrien Einfluss zu nehmen, halte ich für sehr begrenzt. Erstens gibt es in Syrien relativ wenige Schiiten. Und dann ist der Iran in einem Ausmaß geschwächt und in der Defensive, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass sie erneut versuchen werden, sich in Syrien zu etablieren. Die sogenannte Achse des Widerstandes, die ein Machthebel für den Iran darstellen sollte, hat sich zudem als das Gegenteil herausgestellt. Sie hat den Iran nun enorm geschwächt.

Und Russland hat klar gemacht, dass Syriens Ex-Präsident Assad dort zwar sicheres Exil bekommt, aber mehr nicht. Die Russen wollen natürlich ihre Militärbasen am syrischen Mittelmeer behalten. Sie werden sich wahrscheinlich dann in irgendeiner Weise auch mit den neuen Machthabern darüber einigen können.

Dafür wird Russland zahlen - und Geld hilft immer. Da die neuen Leute an der Macht von internationalen Sanktionslisten runter wollen, hätten sie sicher gerne Fürsprecher. Russland hat immer am lautesten darauf bestanden, dass HTS Terroristen sind. Daher hat die HTS nun ein Interesse daran, dass sich Russland da anders positioniert.

Und die Golfstaaten braucht man natürlich für Investitionen. Syrien braucht Milliarden, und die Golfstaaten wären wohl auch bereit zu investieren, wenn wir Stabilität haben.

"Israel verhält sich problematisch"

tagesschau.de: Und wie bewerten Sie das Vorgehen Israels in Syrien?

Wimmen: Israel verhält sich derzeit problematisch. Israel hat in zwei Tagen hunderte Angriffe auf Ziele in Syrien geflogen und scheint zum Ziel zu haben, alles kaputt zu schlagen, was von Assads Armee übrig ist. Es ist schwer zu rechtfertigen, zumal die neuen Machthaber bislang keine aggressiven Signale Richtung Israel gesendet haben. Die syrische Armee ist de facto inexistent und stellt in absehbarer Zeit keine Gefahr für Israel dar. Es gibt keine Rechtfertigung, präventiv vorgehen zu müssen.

Zudem hat Israel die entmilitarisierte Pufferzone vor den Golanhöhen besetzt. Eine Pufferzone auf syrischem Gebiet für ein illegal besetztes syrisches Gebiet zu schaffen, ist nicht legitim.

Stattdessen wäre es im Interesse Israels, nebenan einen stabilen, kräftigen syrischen Staat zu haben, mit dessen Machthabern man sich ins Benehmen setzt. Es ist im Interesse Israels, dass Syrien relativ schnell eine funktionierende Armee bekommt und Damaskus sein Territorium tatsächlich kontrolliert. Das derzeitige israelische Vorgehen sorgt dafür, dass dies sehr viel länger dauern wird.

Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de.

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