Russische Kampfjets vom Typ TU-22M3 bombardieren 2017 Stellungen des IS in Syrien
Weltspiegel

Russlands Krieg in Syrien Putins Blaupause

Stand: 06.03.2022 11:03 Uhr

Syrien gilt als Putins Versuchslabor. Russlands Eintreten in den Bürgerkrieg rettete nach 2015 Machthaber Assad. Russland konnte neue Waffensysteme und Kriegsstrategien testen - auf Kosten der Zivilbevölkerung.

Von seinem Heimatdorf sind kaum mehr als Trümmer übrig. Russische Kampfjets haben Nerab vor zwei Jahren unter Beschuss genommen. Mehr als 100 Bomben seien auf die Bewohner niedergegangen, erinnert sich Ali Abdel - Vergeltung dafür, dass sie im Krieg um Syrien gegen Machthaber Baschar Al-Assad kämpften.

Viele kamen dabei ums Leben, auch sein Vater und zwei Brüder. Andere flohen aus dem Dorf im Süden Idlibs. Die Provinz ist heute die letzte Hochburg der Aufständischen in Syrien.

Ali Abdel blieb mit seinen beiden Kindern in Nerab, wollte als Bauer leben. Doch dann trat der 28-Jährige auf eine Mine und verlor sein Bein. Eine Lektion habe er gelernt, wie er erzählt: "Russland nimmt im Krieg keine Rücksicht auf Kinder, auch nicht auf Frauen, ältere Menschen. Sie bombardieren Märkte, Menschenmassen, Moscheen, Schulen, einfach alles."

Offizielles Ziel: Terrorismus-Bekämpfung

Russlands Eingreifen im Syrienkrieg bringt die Wende: Im September 2015 bombardieren russische Kampfjets Städte und Dörfer unter Kontrolle der Aufständischen. Offiziell sollen sie islamistische Terroristen bekämpfen. Tatsächlich treffen sie vor allem die Bevölkerung.

Putin will so die Niederlage seines Verbündeten Assad abwenden. Syriens Präsident ist zu diesem Zeitpunkt die Kontrolle über weite Teile seines Landes entglitten. Putin wittert die Chance, im Nahen Osten Fuß zu fassen, eine strategisch wichtige Basis für russische Schiffe und Flugzeuge zu etablieren.

Hunderte Waffensysteme getestet

Zugleich testet er in nur zwei Jahren mehr als 200 Waffensysteme: Präzisionswaffen, die von Schiffen und U-Booten abgefeuert werden, neue Kampfjets, Drohnen, bunkerbrechende Raketen, Aufklärungstechnik.

Der Militärexperte Joris Van Bladelm vom Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik glaubt, Syrien sei "ein Versuchslabor für das militärische Arsenal" Russlands gewesen. Etwa 90 Prozent der russischen Luftwaffenpiloten sollen bei dem Einsatz Erfahrung gesammelt haben.

Syriens Machthaber Assad umarmt Russlands Präsidenten Putin

Mehr als nur eine Stütze: Dank Putin ist Syriens Assad weiter an der Macht - und davon profitiert auch Russland.

Verheerende Folgen für die Bevölkerung

Ein Training mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung. Getroffen wird die Infrastruktur des Landes: Kraftwerke, die Strom- und Wasserversorgung. Städte wie Aleppo werden umzingelt, von der Außenwelt abgeschnitten, die Bevölkerung ausgehungert.

Auch die international geächtete Streumunition kommt zum Einsatz. Zahllose Kliniken wurden über die Jahre bombardiert, teilweise mehrfach. Auch Schulen, Bäckereien, Märkte geraten immer wieder ins Zielfeuer. Menschen fliehen, Kampfverbände rücken vor.

Eine infame wie erfolgreiche Kriegsstrategie, glaubt Militärexperte Joris Van Bladelm: "Wenn man einmal die Moral über Bord wirft, ist es einfach, den Gegner zu zermürben."

Wahllose Angriffe mit vielen Opfern

Solche Kriegsverbrechen sieht Diana Semaan von Amnesty International nun auch in der Ukraine. Amnesty International habe Angriffe der russischen Regierung auf Zivilisten und die Infrastruktur in beiden Ländern dokumentiert, den Einsatz von Streumunition, wahllose Angriffe mit vielen Opfern. "Das haben wir auch in Syrien wieder und immer wieder gesehen", sagt sie.

23.000 Zivilisten sind durch russische Waffen in Syrien ums Leben gekommen, berichtet die Organisation "Airwars". Und das, obwohl russische Bodentruppen kaum zum Einsatz kamen.

Festgesetzt an der NATO-Südflanke

Aus Putins Sicht war der Syrien-Einsatz ein Erfolg. An Russland kommt niemand mehr vorbei im Nahen Osten. Mit der Marinebasis in Tartus hat sich Putin eine massive Militärpräsenz an der Südflanke der NATO eingerichtet.

Assad sitzt wieder fest im Sattel, wenn auch von Putins Gnaden. Syrien ist heute eine Art russisches Protektorat. "Das schlimmste Ergebnis dieses Krieges ist, dass niemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Es geschah nichts auf der internationalen Ebene, auf der Ebene des Sicherheitsrats", beklagt Diana Semaan. Wohl auch deshalb habe sich Putin ermuntert gefühlt, neue Kriege zu wagen.

Ali Abdel aus Idlib fürchtet deshalb auch das Schlimmste für die Ukraine: "Der Ukraine wird es so gehen wie Syrien, denn die Russen kennen keine Gnade", glaubt er. "Wenn sie entschlossen sind, ein Ziel zu bombardieren, dann wird es dem Erdboden gleichgemacht. Wenn der Ukraine dasselbe widerfährt wie Syrien, sieht es schlecht aus."

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