Zwei Frauen stehen an einem Geländer am Ufer des mit Eis bedeckten Amur und blicken nach China.
Reportage

Blagoweschtschensk am Amur Wo sich Russland und China ganz nah sind

Stand: 20.03.2023 09:22 Uhr

So nah wie in Blagoweschtschensk am Amur kommen sich Russen und Chinesen kaum irgendwo. Früher kamen die chinesischen Verkäufer auf die russischen Märkte. Heute sind sie hier die Arbeitgeber.

Eine dicke Eisschicht bedeckt den Amur: Man könnte hinüberlaufen bis nach China, wären da nicht die Grenzschützer auf beiden Seiten des Flusses. Näher als hier, zwischen den Städten Blagoweschtschensk und Heihe, kommen sich Russen und Chinesen nirgendwo.

Blagoweschtschensk ist eine hübsche, sehr aufgeräumte Stadt. Russlands Fenster nach Osten: Am Ufer weht eine riesige russische Trikolore, so groß, dass man sie wohl von Heihe aus nicht übersehen kann.

"Vor 20 Jahren waren da drüben nur ein paar Holzhäuser und Bäume", sagt Olga Kuschnarjowa, die Besitzerin eines Reisebüros in Blagoweschtschensk. Heute säumen Hochhäuser, Shoppingzentren und ein Vergnügungspark das chinesische Ufer des Amur. Kuschnarjowa fuhr damals als Studentin regelmäßig rüber nach China - kleiner Grenzverkehr war erlaubt.

Li Li-Hua sitzt an einem Schreibtisch

Die Chinesin Li Li-Hua ist vor mehr als 20 Jahren das erste Mal nach Blagoweschtschensk gekommen. Heute ist sie Bauunternehmerin in der russischen Stadt.

Mit leeren Taschen hin, voll bepackt zurück

"Weberschiffchen" habe man Leute wie sie genannt, sagt sie, weil es immer hin und her gegangen sei. Hin mit zwei leeren Taschen, zurück bepackt mit Waren: Adidas, Dior, Levi's - alles gefälscht, aber gefragt. "Ich hatte auf dem Rückweg manchmal zehn Jeans übereinander an: Um die erste wickelst du Klebeband, dann ziehst du die nächste, größere drüber und so weiter. Erlaubt waren zwei Taschen und das, was man am Leib trug."

Nach ganz Russland wurden die Sachen weiterverkauft: "Blagoweschtschensk war die Adidas-Hauptstadt der Sowjetunion".

Auch von der chinesischen Seite kamen sie herüber. Auf dem Markt verkauften Kleinhändlerinnen aus Heihe für ein paar Rubel alles an chinesischen Waren, was sich irgendwie herüberbringen ließ - Werkzeug, Toaster, imitierte Markenkleidung.

Bis heute gibt es solche Märkte in Blagoweschtschensk, aber die chinesischen Händler haben längst russische Verkäufer eingestellt. Chinesinnen und Chinesen sind hier jetzt Arbeitgeber.

Chinesin macht in Russland Karriere

Li Li-Hua sitzt in ihrem riesigen, goldverzierten Büro und tippt Zahlen in den Taschenrechner. Ein Wandteller zeigt den chinesischen Präsidenten Xi. Li Li-Hua ist vor 20 Jahren das erste Mal über den Fluss gekommen, hat später hier eine der ersten chinesischen Teestuben eröffnet.

Heute ist sie Bauunternehmerin, eine der größten in Blagoweschtschensk. Mehr als 3000 Wohnungen habe sie schon gebaut, sagt sie. "Der Markt ist riesig, die Leute kaufen und kaufen, weil es diese staatliche Förderung gibt". Mit günstigen "Fernost-Hypotheken" will Moskau die Region ganz im Osten attraktiver machen - und den Bevölkerungsschwund aufhalten.

Ein Plakat in der Innenstadt von Blagoweschtschensk

In der Innenstadt von Blagoweschtschensk werben Plakate für den Dienst als Vertragssoldat.

Zu wenige russische Fachkräfte

Auf Li Li-Huas Baustellen arbeiten Russen, Tadschiken und Chinesen. Es gebe viel zu wenig russische Fachkräfte, sagt sie. Sie ist täglich auf den Baustellen unterwegs, kennt jeden Grundriss und jeden Arbeiter.

Ihre neunstöckigen Wohnblocks lässt sie aus Ziegeln bauen, in dieser Gegend sei das besser als Beton. Zumal sie die Backsteine selbst produziert, sie hat hier gleich mehrere Ziegeleien gekauft. Stolz zeigt sie ein Haus mit fast fertiggestellten Ein- und Zweizimmerwohnungen. Die baut sie grundsätzlich mit Balkon, sie sind durchdacht und praktisch konzipiert.

Dass viele in Blagoweschtschensk jetzt chinesische Chefs und Chefinnen haben, scheint in der Stadt kaum jemanden zu stören. "Wir nennen Li Li-Hua hier Larissa, das ist einfacher. Sie ist eine von uns", sagt ein Stadtrat der Regierungspartei, der früher selbst als Jurist für Li Li-Huas Unternehmen gearbeitet hat. "Sie tut sehr viel für unsere Stadt".

Reisen nach China beliebt

Die Reisekauffrau Olga Kuschnarjowa glaubt, dass China all das ersetzen könne, was Russland durch die westlichen Sanktionen verliere. Sie selbst spricht fließend Chinesisch, verkauft Urlaubsreisen vor allem nach Asien: All Inclusive ans chinesische Meer sei sehr beliebt und natürlich Thailand oder Vietnam. Nach Europa wolle nur selten jemand - das sei viel zu weit.

Kuschnarjowa ist Patriotin, unterstützt den Krieg gegen die Ukraine: Russland müsse sich wehren, seine Grenzen schützen. Präsident Wladimir Putin mache alles richtig. Fragt man sie, wer denn Schuld trage am Krieg, ist sie schon über die Frage ehrlich erstaunt: "Sicher nicht Russland." In der Ukraine war sie noch nie.

Krieg weit entfernt und doch präsent

Der Krieg ist neun Flugstunden von hier entfernt und doch präsent. Auch aus Russlands fernem Osten ziehen Männer in den Krieg. Rekrutierungsplakate hängen in der Stadt, auf manchen Autos prangt ein selbstgemaltes großes "Z", das Symbol des Kriegs. Eine von Kuschnarjowas Mitarbeiterinnen hat einen Bruder verloren.

Li-Li-Hua spricht nicht gern über das Thema Krieg. Fragt man sie vorsichtig nach dem, was hier alle "Spezialoperation" nennen, sagt sie nur, dass Kriege grundsätzlich schlecht seien und wechselt das Thema.

Heihe hat den Nachbarn gegenüber zu Neujahr ein Geschenk gemacht: Wegen des Kriegs in der Ukraine hatte die Stadtverwaltung von Blagoweschtschensk auf ein Feuerwerk verzichtet. "Aber die Chinesen haben eins für uns gemacht. Mit Lasershow, Lichteffekten, wunderschön", sagt Olga Kuschnarjowa. "Wir waren alle am Ufer und haben uns gefreut, dass sie das für uns tun."

Karte Russland China Blagoweschtschensk Fluss Amur

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