Netanyahu steht bei einer Kabinettssitzung in Jerusalem (Israel) vor einer Landesflagge.
interview

Krieg im Nahen Osten "Netanyahu navigiert auf Sicht"

Stand: 24.06.2024 20:24 Uhr

Die Hisbollah-Angriffe auf Nordisrael sind ein Problem, das Premier Netanyahu lösen müsse, sagt Nahost-Experte Gerlach. Doch ihm gehe es auch ums politische Überleben. Was spricht für eine Eskalation - was dagegen?

tagesschau.de: Israels Premier Benjamin Netanyahu sagte am Sonntag, das Ende der intensiven Phase der Kämpfe gegen die Hamas stehe bevor. Wie ist das einzuordnen?

Daniel Gerlach: Es kann darauf hindeuten, dass er sich auf die Auseinandersetzungen mit der Hisbollah konzentrieren wird oder zumindest diesen Eindruck erwecken will. Denn zwei Kriege gleichzeitig könnte Israel mit der gleichen Intensität nicht führen. Das weiß die Armee, und das weiß die Öffentlichkeit. 

Netanyahu hat es bis heute nicht geschafft, die Hamas-Führung zur Strecke zu bringen. Er hat monatelang auf einen "lucky punch" gehofft: die Gelegenheit, die Führung zu treffen, um dann den Sieg im Krieg verkünden zu können. Da das nicht erfolgt ist, braucht es einen Exit, der wie ein Erfolg aussieht. 

In einer Auseinandersetzung mit der Hisbollah hätte er eher die Chance, auch international wieder Unterstützer zu finden - wie die USA -, was ihm im Krieg in Gaza nicht mehr gelingt. Eine militärische Auseinandersetzung ist für Netanyahu wichtig: Er glaubt, dass Israels Schicksal an seinem politischen Überleben hängt - und natürlich umgekehrt. Ich habe den Eindruck, Netanyahu navigiert dabei auf Sicht, sucht Gelegenheiten von Tag zu Tag, irgendwie seine Position zu verbessern. 

Daniel Gerlach
Zur Person
Daniel Gerlach ist Autor, Publizist und Experte für Nordafrika, den Nahen Osten und die muslimische Welt. Er ist u. a. Chefredakteur des Magazins zenith. Das Magazin beschäftigt sich mit der Lage in der islamisch-arabischen Welt.

"De facto gibt es schon einen Krieg im Libanon"

tagesschau.de: Würde Israel sich nicht noch mehr isolieren, wenn es die Eskalation mit der Hisbollah sucht?

Gerlach: Die Eskalation besteht bereits, und viele Menschen in Israel fühlen sich akut bedroht. Uns ist oft nicht klar, wie viel Gewalt da jeden Tag stattfindet. De facto gibt es ja schon einen Krieg im Libanon. Es gibt tägliche Bombardements, es gibt Raketenbeschuss - und es gibt die ungelöste Situation Tausender Israelis, die nicht in ihre Heimatstädte und -dörfer zurückkehren, weil sie sich in unmittelbarer Reichweite der Hisbollah-Artillerie befinden. Das ist ein Problem, das die Führung irgendwie lösen muss. 

Nicht nur die Regierung Netanyahu, sondern auch große Teile des Sicherheitsestablishments gehen davon aus, dass eine der Lehren des 7. Oktobers ist: Wer die militärischen Möglichkeiten hat, Israel anzugreifen, wird das früher oder später tun. Die Hisbollah hat diese Möglichkeiten im Libanon und in Syrien.

Deswegen ist die Sorge auf der israelischen Seite: Wenn wir nicht jetzt bereit für eine militärische Konfrontation sind, dann wird die Hisbollah weiter aufrüsten und wird dann irgendwann ein noch gefährlicherer Gegner sein. Und Israel vertraut darauf, dass die Amerikaner sie im Konflikt mit der Hisbollah und mit dem Iran im Hintergrund decken oder auch offen unterstützen werden.

Ein Dilemma: Einerseits ist die Situation gefährlich, andererseits aber die Gelegenheit auch günstig. 

Wo Netanyahu Chancen sieht - und wo die Risiken liegen

tagesschau.de: Warum ist aus Sicht Netanyahus genau jetzt ein günstiger Zeitpunkt, gegen die Hisbollah vorzugehen?

Gerlach: Erstens ist Israel im Kriegsmodus, die Öffentlichkeit ist abgehärtet. Zweitens ist es Sommer, und die Kriege mit der Hisbollah haben immer im Sommer stattgefunden. Und drittens gibt es eine Möglichkeit, die Reihen wieder zu schließen. 

Israels militärische Führung sagt, dass sie in Gaza mit militärischen Mitteln keine politischen Ziele erreichen könne. Deswegen sei sie gegen das Vorgehen von Netanyahu dort. Auch die meisten Geiseln konnten nicht befreit oder durch Verhandlungen zurückgewonnen werden. Netanyahu scheint das Thema aufgegeben zu haben.

Wenn jetzt die Situation im Libanon eskaliert, schauen die Israelis in eine andere Richtung. Dort hat Netanyahu die Chance, diejenigen Kräfte auf seine Seite zu ziehen, die sein Vorgehen in Gaza sehr kritisch sehen, weil sie die Hisbollah für eine existenzielle Bedrohung halten und das Vorgehen dagegen legitim fänden. 

Außerdem gibt es ein großes Zerwürfnis mit den USA über das Vorgehen Israels. In dem Moment, wo es eine Auseinandersetzung mit der Hisbollah gibt, mit dem Iran im Hintergrund, stünden die Amerikaner an der Seite Israels, obwohl sie im Hintergrund verhandeln, damit das nicht geschieht. 

Aber natürlich sind die Risiken enorm. Wenn es nicht gelingt, die Hamas militärisch zu besiegen, dann wird es noch viel weniger mit der Hisbollah im Libanon und in Syrien gelingen. Zumal die Iraner zwar nie bereit wären, eigene Kräfte für die Hamas zu opfern - bei der Hisbollah sähe das aber anders aus. Andererseits gibt es auch keine politische Strategie, nur eine militärische.

"Beide Seiten wissen, wie hoch die Verluste wären"

tagesschau.de: Wie wird sich die Situation in den kommenden Tagen oder Wochen entwickeln?

Gerlach: Man kann nur hoffen, dass das, was da im Libanon und Israel passiert, gerade einfach großes Säbelrasseln ist - und dass es am Ende nicht zur großen militärischen Eskalation kommt. Denn beide Seiten wissen, wie hoch die Verluste wären. 

Auch wenn Netanyahu den Krieg in Gaza eigentlich fortsetzen möchte, weiß er, dass die Verbündeten der Hamas, etwa die Hisbollah, einen Grund oder Zwang zum militärischen Eskalation haben, solange dieser Krieg währt. 

Wenn er es aber schafft, ohne Gesichtsverlust und ohne Bekenntnis zu einem Kompromiss oder Frieden diesen Krieg auslaufen zu lassen, kann er international wieder mehr Legitimität gewinnen - und der Hisbollah insgeheim eine Gelegenheit geben, nicht zu eskalieren. 

Im Grunde haben die Hisbollah und Netanyahu gerade ein gemeinsames Interesse: Stärke zu zeigen, aber dafür zu sorgen, dass die Situation nicht komplett aus dem Ruder läuft. Wenn ihnen das gelingt, lässt sich die Eskalation des Kriegs zwischen Hisbollah und Israel vermeiden. Aber es ist ein Spiel, das so riskant ist, dass es sich schwer kontrollieren lässt. 

"Netanyahu hofft auch auf eine Abschreckung"

tagesschau.de: Wenn es nun eskaliert - was für ein Ziel würde Netanyahu dann militärisch verfolgen können, in Anbetracht der Tatsache, dass ein Sieg über die Hisbollah noch schwieriger als ein Sieg über die Hamas wäre?

Gerlach: Eine Schwächung der militärischen Kapazitäten der Hisbollah. Weil Netanyahu natürlich weiß, dass die Hisbollah, die hauptsächlich auf hoch trainierte Infanterie und Raketen setzt, letztere jeweils nur einmal einsetzen kann. 

Drohnen und Raketen sollen also verschossen oder abgeschossen werden. Und die Panzer und schweren Waffen kann die Hisbollah in der Auseinandersetzung mit Israel aufgrund der geographischen und topographischen Umstände nicht gut einsetzen. Wenn Israel siegen sollte, müsste es eine Besatzungszone im Süden des Libanon einrichten - und also das tun, was in den 1990er-Jahren bereits zu dieser Situation geführt hat.

Insgesamt hofft Netanyahu wohl auf die Wirkung von Abschreckung. Darauf, dass es gar nicht zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt - dass man die Spannung so hoch halten kann, dass alles mobilisiert wird, ohne dass es letztendlich zum Äußersten kommt. 

"Möglichkeit einer internationalen Sicherheitsverantwortung für Gaza"

tagesschau.de: Schauen wir noch einmal auf Gaza: Zeichnet sich mittlerweile eine Strategie für ein Kriegsende oder für die Zeit nach dem Krieg dort ab?

Gerlach: Netanyahu hat keine erkennbare Strategie. Aber einige arabische Staaten und die USA haben zumindest Pläne. Und ich habe den Eindruck, dass man unter bestimmten Maßgaben bereit wäre, eine arabische Unterstützung für die Sicherheitsverantwortung in Gaza bereitzustellen. 

Vorausgesetzt, die Israelis garantieren vertraglich, dass sie nicht angreifen, dass sie sich zurückhalten, und dass sie den Gazastreifen mitversorgen. Dann gäbe es durchaus die Möglichkeit einer internationalen Sicherheitsverantwortung für Gaza. Aber Netanyahu hat diesen Plan nicht. 

Im Grunde hoffe alle anderen Akteure darauf, dass Netanyahu und seine Regierung zu Fall gebracht werden und man dann mit einer Nachfolgeregierung eine vernünftige Lösung verhandeln kann. 

Wer für Netanyahu die "viel größere Gefahr" ist

tagesschau.de: Am Sonntag fand in Israel die wohl größte regierungskritische Demonstration seit Beginn des Nahostkriegs statt. Bewirken die Proteste irgendetwas?

Gerlach: Nein, ich glaube nicht. Die Regierung geht ja mit den Demonstranten in Tel Aviv mittlerweile hart um. Die Leute werden mit Polizeigewalt konfrontiert, wie sie sie noch nicht erlebt haben. Von diesen Protesten und den Familien der Geiseln lässt sich Netanyahu nicht beeindrucken, vor allem nicht seine extremen Koalitionspartner, die unter anderem für die Polizei verantwortlich sind.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es auch ein extrem mobilisiertes rechtes und rechtsradikales Lager in Israel gibt, das die Regierung unterstützt. 

Die viel größere politische Gefahr für Netanyahu ist der derzeitige Konflikt um die Wehrpflicht für Ultraorthodoxe. Deren bisherige Befreiung vom Militärdienst könnte nun beendet werden. Wenn das passiert, wird vielleicht ein Teil der rechtsextremen und nationalreligiösen Unterstützer, insbesondere der Ultraorthodoxen, die Regierungskoalition verlassen. Das ist für Netanyahu momentan politisch die viel größere Gefahr als Demonstranten in Tel Aviv. 

Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de.

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