Außenansicht des Europaparlaments in Straßburg
Analyse

Neues Europaparlament Schwierige Suche nach neuen Mehrheiten

Stand: 27.05.2019 00:56 Uhr

Europa hat gewählt: Und jetzt? Die großen Parteien verlieren deutlich, Liberale und Grüne sind Gewinner, auch Rechte legen insgesamt klar zu. Die Organisation von Mehrheiten im Parlament wird nun schwierig.

Schon am Montag treffen sich die Chefs der Fraktionen aus dem Europaparlament. Dort wollen sie eine Machtfrage vorentscheiden. Der Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten nämlich soll einer der Spitzenkandidaten werden. Damit will das Parlament mehr Demokratie und Transparenz in Europa herstellen. Der EVP-Kandidat Manfred Weber sei "in der Pole-Position", meint CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Als weiterhin stärkste Fraktion liegt das nahe. Aber mit derart starken Verlusten lässt sich das kaum selbstbewusst vortragen, vor allem wenn man mindestens zwei andere für eine Mehrheit braucht.

Hinzu kommt: Das Prinzip des "Spitzenkandidaten" ist so eigentlich nicht in den Verträgen vorgesehen. Dort heißt es, die Staats- und Regierungschefs müssen einen Kandidaten vorstellen unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses. Dieser Kandidat muss dann mit Mehrheit von Europaparlament gewählt werden.

Staats- und Regierungschefs vs. Europaparlament

Das Europaparlament hat also das letzte Wort in dem Prozess. Und daraus leiten die Abgeordneten auch ihren Machtanspruch über den Spitzenkandidaten ab. Das Problem: Eine Reihe wichtiger europäischer Staats- und Regierungschefs, darunter Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, fühlt sich nicht an dieses Prinzip des "Spitzenkandidaten" gebunden.

Macron hat aber selbst bei der Europawahl gegenüber dem rechtsnationalen "Rassemblement National" so schlecht abgeschlossen, dass ihm das auch nicht unbedingt gute Argumente liefert. Das gilt allerdings auch für jene Fraktionen im Europaparlament, die so klare Verluste kassieren, wie eben die Christ- und Sozialdemokraten.

Dennoch wollen die Parlamentarier am Ende selbst den Kandidaten bestimmen. Der Machtkampf ist in vollem Gange. Hinzu kommt: Es geht nicht nur um den Kommissionspräsidenten. Es müssen auch ein neuer Ratspräsident und Nachfolger von Donald Tusk sowie ein neuer Außenbeauftragter der EU gefunden werden.

Alles geht nur im Paket. Und um es noch ein bisschen komplizierter zu machen: Viele zählen auch noch den Posten des EZB-Präsidenten dazu. Der muss nämlich auch neu besetzt werden. Der deutsche Jens Weidmann gilt als Kandidat. Aber nur, wenn Weber kein Kommissionspräsident würde.

Wahlergebnis nicht eindeutig

Nun ist das Wahlergebnis 2019 nicht besonders eindeutig. Eine Mehrheit für irgendwen kann niemand alleine bilden. Die EVP kann selbst mit Liberalen und Grünen kaum eine stabile Mehrheit bilden. Ähnlich ist das bei Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Linken. Lediglich EVP, Sozialdemokraten und Liberale kommen zusammen auf eine stabile Mehrheit.

Alle drei Fraktionen haben zudem die Kandidaten, die sich klar bekannt haben, Kommissionspräsident werden zu wollen: Frans Timmermans für die Sozialdemokraten, Manfred Weber für die Konservative EVP und zuletzt hat in der Nacht auch die Liberale Margarete Vestager gegenüber der ARD ihren klaren Willen zum Amt bekundet.

Planspiele, Planspiele, Planspiele

Wettbewerbskommissarin Vestager könnte also die lachende Dritte werden, hat zwar von den dreien die wenigsten Stimmen hinter sich, gilt aber auch als eine Geheimfavoritin von Macron. Die Liberalen, im Europaparlament als ALDE in einer Fraktion, werden künftig mit Macrons "En Marche" zusammengehen. Das Bündnis soll dann "Renaissance" heißen. Zudem ist Vestager eine Frau, kommt aus einem kleinen Land und hat sich bereits als erfolgreiche, allseits anerkannte Kommissarin bewiesen.

Dennoch hat der konservative Kandidat Weber weiter gute Chancen als erster Deutscher seit über 50 Jahren EU-Kommissionspräsident zu werden. Für diesen Fall werden Sozialdemokrat Timmermans gute Aussichten auf den Posten des Außenbeauftragten der EU nachgesagt. Fehlt noch mindestens eine Frau, jemand aus einem kleinen Land, jemand aus dem Osten…. Die Kriterienliste zeigt, wie kompliziert es wird.

Abgeordnete bei einer Sitzung des Europaparlaments in Brüssel

Europaparlament in Brüssel. Hier wurden die Machtverhältnisse deutlich durcheinandergewirbelt.

Am Dienstag könnten erste Vorentscheidungen fallen. Zunächst treffen sich die Parteivorsitzenden nochmals, am Abend dann die Staats- und Regierungschefs. Die mangelnden Mehrheitsoptionen könnten ihnen in die Karten spielen. Sie sollen ja jemanden vorstellen in Berücksichtigung des Wahlergebnisses. Und wenn das allein einen Spitzenkandidaten nicht bestätigt, ja dann könnte ein anderer Kandidat der Joker sein.

Aber das will das Parlament in jedem Fall verhindern. "Wenn wir das Spitzenkandidatenprinzip jetzt nicht durchsetzen, können wir einpacken", heißt es bei führenden Abgeordneten aller Fraktionen. Dafür sind sie auch bereit, im Zweifel den Konkurrenten zu unterstützen - und das könnte dann Weber sein.

Die Rolle der rechtsnationalen, rechtsextremen Parteien

Was noch fehlt: Ein Blick auf den möglichen neuen Block im Europaparlament. Die rechtsnationale und teils rechtstaatsfeindliche ungarische Fidesz-Partei wandert zu den anderen rechtsnationalen um Italiens Innenminister Matteo Salvini, deren Lega dramatisch gewonnen hat. Hinzu kommen noch die österreichische FPÖ, die AfD, der französische "Rassemblement National" von Marine le Pen und einige andere. Können sie tatsächlich wie angekündigt eine Fraktion gründen, könnte die über 100 Sitze haben und damit deutlich mehr Einfluss bekommen als je zuvor.

Olli Kotro ( „Die Finnen“), Jörg Meuthen(AfD), der italienische Innenminister Matteo Salvini und Anders Vistisen (Dänischen Volkspartei)

Im Aufwind: Treffen rechtspopulistischer Parteien in April im Mailaind.

Im Europaparlament dürfte es also künftig deutlich mehr zur Sache gehen. Deutlich mehr Auseinandersetzung verspricht zudem der Anteil Abgeordneter aus einem Land, das eigentlich längst nicht mehr dabei sein wollte: Großbritannien. Die Brexit-Partei dürfte sogar die größte nationale Einzelpartei im Parlament werden. Und es ist kaum zu erwarten, dass deren Chef Nigel Farage sich still verhalten wird. Jahrelang hatte er wie kaum ein anderer gegen die europäischen Institutionen gewettert und den Brexit vorangetrieben.