In Haiti steht ein Mann vor einem brennenden Autoreifen.

Krise in Haiti Zwischen Gewalt, Protesten und Krankheit

Stand: 06.10.2022 21:10 Uhr

Seit Wochen protestieren die Menschen in Haiti: gegen die Macht krimineller Banden, gegen Mangelwirtschaft. Nun kämpft der Inselstaat zudem mit Cholera-Fällen. Doch mögliche Hilfe aus dem Ausland trifft auf Skepsis.

Fast täglich gehen in Haiti in diesen Tagen die Menschen auf die Straße. Brennende Autoreifen sind in den sozialen Netzwerken zu sehen. Das Land versinkt im Chaos und in Gewalt.

Gangs kontrollieren mittlerweile die Hälfte des Karibikstaats. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass es um die 300 kriminelle Banden in Haiti gibt. Frauen und Mädchen sind hauptsächlich Opfer der Bandengewalt. Sie würden vergewaltigt, getötet und gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen und in behelfsmäßigen Lagern zu leben, wo sie allen Arten von Misshandlungen ausgesetzt seien. So beschreibt die geladene Zeugin Vélina Élysée Charlier von der Nichtregierungsorganisation Nou Pap Dòmi die Situation bei einer Anhörung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des US-Repräsentantenhauses zur Krise in Haiti.

Man könnte es fast Staatsterrorismus nennen, was wir hier in Haiti erleben. Die Banden sind die Banden der Regierung. Man wird sie nicht einfach los. Man muss, die Ursache bekämpfen und diejenigen treffen, die die Banden finanzieren und von ihnen profitieren.

Ein Interimspremier ohne Legitimation

In der Vergangenheit hätten verschiedene Regierungen enge Verbindungen zu Banden gepflegt, wie Beobachter herausstellen. Das gelte aber auch für oppositionelle Gruppen.

Der Staat sei schlicht nicht existent, das Parlament und die Justiz funktionierten nicht. Dessen ungeachtet würden die USA und die Vereinten Nationen den Interims-Premierminister Ariel Henry bedingungslos unterstützen, kritisiert Élysée Charlier: "Obwohl dieser weder ein verfassungsmäßiges Mandat noch eine Legitimation durch das Volk hat. Dadurch erhält Ariel Henry eine Legitimität, die ihn dazu ermächtigt, jeden innerstaatlichen Dialogprozess abzulehnen, der zur Lösung der haitianischen Krise beitragen könnte."

Henry war vor einem Jahr nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse als Interims-Premierminister vereidigt worden. Ein Datum für die angekündigten Wahlen, die er noch in diesem Jahr in Aussicht gestellt hatte, bleibt aus.

Henry spricht von humanitärer Krise

Nachdem die kriminellen Gangs die Treibstofflager seit Wochen blockieren und damit einhergehend die Preise für Wasser und Lebensmittel in die Höhe geschossen sind, wandte sich Henry vor wenigen Tagen an die Nation - und mit einem dringlichen Appell auch an die internationale Gemeinschaft:

Ich bitte alle mit Haiti befreundeten Länder, an unserer Seite zu stehen und uns bei der Bekämpfung dieser humanitären Krise zu helfen. [...] Wir wollen, dass die internationale Gemeinschaft dem Land hilft, den Treibstoff herauszuholen, damit er verteilt werden kann und die Aktivitäten wieder aufgenommen werden können.

Unternehmen hatten zuvor bereits die Schaffung von humanitären Korridoren gefordert.

"Das Eingreifen der USA hat noch nie Probleme gelöst"

Élysée Charlier erinnert jedoch an das fehlgeschlagene Engagement der internationalen Gemeinschaft. Eine weitere Entsendung ausländischer Truppen sieht ihre Organisation kritisch.

Die UN-Mission MINUSTAH, die nach dem Staatsstreich gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide Anfang 2004 eingesetzt wurde, als Haiti drohte, im Chaos zu versinken, hatte von Beginn an in der Bevölkerung einen schlechten Stand. Im Verlauf der Mission gab es viele Gründe für Kritik: UN-Soldaten vergewaltigten Einheimische und beteiligten sich am sexuellen Missbrauch und der Prostitution Minderjähriger, wie Untersuchungen belegen.

Dann kam das schwere Erdbeben 2010. Mindestens 230.000 Menschen kamen ums Leben, 10.000 starben an Cholera, die von Mitarbeitern der Vereinten Nationen in das Land eingeschleppt worden war. "Danach mussten wir sogar um eine Entschuldigung kämpfen. Das Eingreifen der USA hat noch nie Probleme gelöst", so Élysée Charlier:

Die Frage ist, was können wir jetzt in dieser Situation tun: Für uns liegt die Lösung in Haiti selbst. Hier gibt es Akteure, die ehrlich und integer sind und kompetent genug, um ihr Land zu regieren. Alles, was wir wollen, ist eine Chance, dies zu tun.

Zu allem Unglück trifft drei Jahre nach dem letzten bestätigten Fall nun noch ein erneuter Cholera-Ausbruch das krisengebeutelte Land. Sieben Menschen sind bereits daran gestorben.