Das Army Tactical Missile System (ATACMS) der US-Armee
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US-Raketen in der Ukraine Was können ATACMS?

Stand: 18.11.2024 19:48 Uhr

Lange hat die Ukraine darauf gewartet, US-amerikanische ATACMS-Raketen auch auf russischem Territorium einsetzen zu dürfen. Nun hat sie diese Erlaubnis offenbar bekommen. Was bedeutet das für den Krieg und was zeichnet die ATACMS aus?

Was sind ATACMS?

Die Abkürzung ATACMS steht für Army Tactical Missile System. Es handelt sich um eine Kurzstreckenrakete, die vom US-Rüstungskonzern Lockheed Martin hergestellt wird. Es gibt sie in Versionen mit unterschiedlicher Reichweite. Die erste Version, die die USA 2023 der Ukraine lieferten, hatte eine Reichweite von maximal 165 Kilometern. Später erhielten Kiews Streitkräfte ATACMS mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern.

ATACMS können mit Streumunition bestückt werden, die sich am Zielort in einem weiten Radius verteilt. International ist Streumunition höchst umstritten, weil sie wegen ihres Streufaktors auch Jahre nach einem militärischen Konflikt zu zivilen Opfern führen kann. Im Ukraine-Krieg wurde sie auch deshalb ausgeliefert, um den großen Vorsprung Russlands bei der Munitionsproduktion auszugleichen. Zudem kann Streumunition besonders effektiv gegen Truppen und ungepanzerte Fahrzeuge im offenen Gelände eingesetzt werden.

ATACMS werden von mobilen Raketenwerfern vom Typ HIMARS oder MLRS M270 abgeschossen. Sie sollen ihr Ziel in weniger als fünf Minuten erreichen können - deutlich schneller als andere Kurzstreckenraketen.

Allerdings steigen sie im Flug vergleichsweise hoch und können deshalb leichter als andere Raketen von der Flugabwehr der Gegenseite ins Visier genommen werden. Das unterscheidet ATACMS unter anderem von Marschflugkörpern wie dem deutschen "Taurus"-System oder den britischen Raketen vom Typ "Storm Shadow".

Wo können die ATACMS eingesetzt werden?

Diese heikle Frage wird gestellt, seit sich die USA entschieden haben, der Ukraine die Raketen für ihren Verteidigungskrieg zur Verfügung zu stellen. Denn die ATACMS wurden dafür konzipiert, feindliche Truppen und Gerät weit hinter den Frontlinien bekämpfen zu können. Im Ukraine-Krieg bedeutet das: Mit ihrer Reichweite von bis zu 300 Kilometern können sie Ziele auch im russischen Hinterland treffen.

Das würde den Krieg erheblich verändern, der sich - von einzelnen Drohnenangriffen der Ukraine auf die militärische Infrastruktur Russlands einmal abgesehen - bislang nur auf ukrainischem Territorium abspielt.

Das aber haben die USA bislang gescheut. Der Einsatz nordkoreanischer Soldaten auf Seiten der russischen Aggressoren hat aber offenbar zu einem Umdenken in der US-amerikanischen Regierung geführt.

Nordkorea soll 1.500 Soldaten nach Russland verlegt haben, wo sie nach einer militärischen Einweisung in den Kampf geschickt werden - mutmaßlich, um die ukrainischen Einheiten zurückzudrängen, die im Sommer in die Region Kursk vorgedrungen waren. Russland soll dazu inzwischen in der Region bis zu 50.000 Soldaten zusammengezogen haben.

Wie die New York Times berichtet, sei eines der Ziele der US-Regierung, eine Botschaft an Nordkorea zu senden, dass seine Soldaten verwundbar seien und dass es nicht noch mehr senden solle. Insgesamt soll Nordkorea planen, bis zu vier Brigaden mit 12.000 Soldaten an die Front in der Ukraine zu schicken. Außerdem unterstützt das Regime von Kim Jong-un Russland mit Drohnen und Munition im Angriffskrieg.

Erstmals wurden ATACMS nach ukrainischen Angaben im Oktober 2023 eingesetzt. Im Frühjahr 2024 sollen damit russische Stellungen auf der besetzten Halbinsel Krim sowie in der besetzten Stadt Berdjansk im Südosten der Ukraine angegriffen worden sein.

Können ATACMS auch Ziele in Moskau treffen?

Nein, dazu ist Moskau zu weit von der Front entfernt. Moskau liegt rund 500 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Noch weiter entfernt liegt die russische Metropole St. Petersburg - hier beträgt die Entfernung rund 1.000 Kilometer.

Aber innerhalb der Reichweite würden Stützpunkte und Kommandozentralen der russischen Armee hinter der Grenze oder auch Städte wie Rostow oder Berdjansk liegen, die für den Nachschub der russischen Streitkräfte eine wichtige Rolle spielen. Ob die ukrainische Armee für solche Angriffe außerhalb der Region Kursk die Erlaubnis besitzt, ist bislang nicht bekannt.

Karte der Ukraine und Russlands, hell schraffiert: von Russland besetzte Gebiete, dunkel schraffiert: Reichweite ATACMS

Karte der Ukraine und Russlands, hell schraffiert: von Russland besetzte Gebiete, dunkel schraffiert: Reichweite ATACMS

Stellt die Entscheidung der USA eine Eskalation dar?

So formuliert es die russische Führung. Die scheidende Regierung von US-Präsident Joe Biden gieße Öl ins Feuer und suche eine Eskalation des Krieges in der Ukraine, sagt der Sprecher des russischen Präsidialamtes, Dmitri Peskow. Es entstehe eine "grundlegend neuen Situation in Bezug auf die Beteiligung der USA an diesem Konflikt".

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock widerspricht der Eskalations-Theorie. Sie hebt hervor, dass Russland die Ukraine 2022 angegriffen hat und diese sich seither dagegen verteidigt. Bei der Selbstverteidigung der Ukraine gehe es jetzt darum, "dass man die militärischen Abschussbasen zerstören kann", sagte Baerbock. Dies sei "im Rahmen des internationalen Rechts, des Selbstverteidigungsrechts".

Können die ATACMS eine Wende im Krieg herbeiführen?

Diese Erwartung wäre gewiss übertrieben. Die USA warnten jedenfalls - möglicherweise auch aus politischen Gründen - im Frühjahr davor, sie als Wunderwaffe zu betrachten. Aber ihre kurze Flugzeit stellt die russische Armeeführung und die Flugabwehr vor eine zusätzliche Herausforderung. Wie viele dieser Raketen und wie viele Abschussrampen die Ukraine besitzt, ist indes nicht bekannt.

Die Luftüberlegenheit Russlands war in den vergangenen Monaten ein wichtiger Faktor im Angriffskrieg und ist von der Ukraine immer wieder beklagt worden. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat ein ums andere Mal die Erlaubnis zum Einsatz von ATACMS gefordert, um Nachschubbasen der russischen Armee oder auch Startplätze für Kampfflugzeuge bombardieren zu können.

Das amerikanische Umdenken könnte die russische Armeeführung nun dazu zwingen, einen Teil ihrer Waffen auf weiter entfernte Stützpunkte zu verlegen, um sie außerhalb der Reichweite der ATACMS zu bringen. Militärexperten spekulieren, dass Russland dies schon im Vorgriff auf eine solche Entscheidung der USA getan haben könnte.

Könnte die Erlaubnis auch mit dem Wahlsieg Trumps zusammenhängen?

Das kann zumindest nicht ausgeschlossen werden. Der designierte US-Präsident Donald Trump und auch Teile seiner künftigen Administration haben im Wahlkampf immer wieder Kritik am Ausmaß der US-Hilfe für die Ukraine geäußert und den Willen formuliert, diese zu reduzieren. Trump selbst hat behauptet, er werde den Krieg binnen 24 Stunden beenden.

Die Substanz solcher Versprechungen mag gering sein. Sie stehen aber für Überlegungen und eine Bereitschaft, in Verhandlungen mit Russland einzutreten - zu einem Zeitpunkt, da die Ukraine militärisch unter Druck steht.

Insofern kann es sein, dass Biden die militärische Position der Ukraine für etwaige Verhandlungen stärken will - bevor im Januar ein Team ins Weiße Haus einzieht, dessen Absichten man derzeit nur ahnen kann, aber die die Lage der Ukraine wahrscheinlich kaum verbessern werden.

Werden nun auch deutsche "Taurus"-Raketen geliefert?

Bislang hat Bundeskanzler Olaf Scholz das abgelehnt, und bei dieser Haltung bleibt er auch. Die Entscheidung der USA hätten keine Auswirkungen auf die Entscheidung des Bundeskanzlers, "Taurus" nicht zu liefern, sagte ein Regierungssprecher. Zuletzt hatte er dies in seiner Regierungserklärung nach dem Ende der Ampelkoalition abgelehnt.

Hierbei mag neben grundsätzlichen Erwägungen wie der Sorge, dass Deutschland Kriegspartei werden könnte, aktuell auch der Wahlkampf eine Rolle spielen, denn eine Abkehr von der bisherigen Linie würde die SPD vermutlich einer Zerreißprobe aussetzen - unwahrscheinlich, dass sie dieses Risiko im Wahlkampf eingeht.

Die Debatte ist dennoch da - und die geänderten Mehrheiten im Bundestag spielen dabei eine Rolle. Die FDP erwägt, eine Abstimmung über die "Taurus"-Lieferung im Bundestag zu fordern. Im März hatte sie noch - bis auf zwei Abweichler - gegen einen solchen Antrag der Unionsfraktion gestimmt. Nun könnte sie sich anders verhalten. Dies reicht für eine Mehrheit im Bundestag aber noch nicht aus - Union und FDP zusammen kämen auf 286 Stimmen, für eine Mehrheit wären mindestens 367 Stimmen erforderlich.

Es müssten also Abgeordnete anderer Parteien dazukommen. Vor allem Vertreter der Grünen haben sich in der Vergangenheit für eine "Taurus"-Lieferung ausgesprochen. Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck würde nach eigenen Angaben als Regierungschef "Taurus"-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. Doch auch die Grünen dürften den Blick auf die Wahl am 23. Februar und die Zeit danach haben. Auch die Union dürfte in ihre Überlegungen miteinbeziehen, welche Koalition sie nach der Wahl für wahrscheinlich hält. Denn ob selbst bei einer Mehrheit im Bundestag die "Taurus"-Raketen noch vor der Wahl freigegeben würden, ist ungewiss.

Die Debatte wird aber auch in der Europäischen Union weiter geführt. Vor Beratungen der EU-Außenministerinnen und Außenminister in Brüssel forderte der Außenbeauftragte Josep Borrell die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu auf, der Ukraine den Einsatz von Waffen für Angriffe innerhalb Russlands generell zu gestatten.