Reportage aus Syrien Leben und Sterben in Aleppo

Stand: 08.04.2013 17:44 Uhr

Die Menschen in der syrischen Stadt Aleppo kämpfen ums Überleben. Viele haben Familie und Freunde verloren, ihre Häuser liegen in Trümmern. Auf den Westen hofft niemand mehr - als einzige Rettung erscheinen die Islamisten.

Die Menschen in der syrischen Stadt Aleppo kämpfen ums Überleben. Viele haben Familienmitglieder und Freunde verloren, ihre Häuser liegen in Trümmern. Auf den Westen hofft niemand mehr - als einzige Rettung erscheinen die Islamisten. ARD-Hörfunkreporter Martin Durm war gemeinsam mit seinem Fernsehkollegen Jörg Armbruster in Aleppo unterwegs, wo Armbruster lebensgefährlich verletzt wurde.

Von Martin Durm, SWR 

Staub, überall weißer Staub, in der Luft, auf den Kleidern, der Haut, den Haaren. Und Wind. Dort, wo die Scheich-Schana-Straße war, hat die Rakete eine so breite Schneise geschlagen, dass immer wieder heftige Böen über das Trümmerfeld fegen. Ein Mann taucht aus einer Staubwolke auf, sieht uns, brüllt uns an: "Seid ihr hergekommen um uns zu filmen, wollt ihr Bilder von uns machen?", schreit er. Wir sähen doch, was mit ihnen geschehe. "Was wollt ihr? Die Leute sterben. Überall nur Zerstörung, Lügen, Scheiße. Hört auf zu filmen, sofort." Staatspräsident Assad werde sie im Fernsehen sehen und noch eine Rakete schicken. Ob Assad uns geschickt, uns gekauft habe, fragt er.

"Beruhig dich doch", sagen ein paar Trümmermänner, die jetzt ebenfalls aus einer Staubwolke auftauchen. Sie kennen ihn, er ist irre geworden an diesem Krieg und flüchtet sich in seinen Wahn. Alle anderen wissen um ihre Schutzlosigkeit. Sie haben Schaufeln in den Händen. Sie graben nach dem, was übrig bleibt, wenn eine elf Meter lange Scud-Rakete aus Damaskus hier einschlägt, mitten in Aleppo.

"War das dein Haus?", frage ich einen von ihnen. "Ja, das war mein Haus", sagt er. Da ist nichts mehr als faustgroße Steinbrocken, ein Schuh, ein verbogenes Bettgestell. Ich war mit meinem ältesten Sohn einkaufen. Deshalb leben wir noch, alle anderen sind tot. Sieben Kinder, meine Frau, die Nachbarn - alle tot. Das war eine Scud-Rakete.

Syriens Präsident Assad setzt mittlerweile ballistische Lenkwaffen ein, um den Aufstand niederzuschlagen und die Einwohner im von Rebellen kontrollierten Ostteil Aleppos zu strafen. Die Stadt, die einmal eine der schönsten des Orients war, ist verwüstet. Was zum Weltkulturerbe zählte - der Bazar, die Zitadelle - ist nun Frontlinie, bietet Deckung, eignet sich für eine Granatwerferstellung. "Wir machen täglich Fortschritte", sagt der Stadt-Kommandant der Freien Syrische Armee FSA, Abdul Jabar Akaidi, ein desertierter General. "Wir haben heute sogar eine Moschee erobert, belagern den Flughafen, machen Geländegewinne."     

Zivilisten kämpfen ums Überleben

Das sagt man so, wenn sich seit Monaten nichts mehr bewegt. Der Aufstand ist zum Stellungskrieg geworden. Und während die Rebellenkommandeure und das Assadregime ihre Durchhalteparolen ausgeben, versuchen hunderttausende Zivilisten irgendwie zu überleben.

Das Haus der Brüder Ali und Mohammed Quadun hat den Einschlag der Scud-Rakete überstanden, mit schweren Rissen zwar, aber die Familie hat mit ihren sechs Kindern immer noch ein Dach über dem Kopf. Er sei 51 Jahre alt, sagt Ali, sein Bruder 45. "Wir haben keine Arbeit mehr. Unsere Kinder bringen manchmal etwas Geld, weil es im Viertel noch eine kleine Textilfabrik gibt, wo sie arbeiten können - für sieben Dollar die Woche."

"Siehst du", sagt Mohammed, "das haben wir hier jeden Tag. Mal wird eine Granate abgefeuert, dann schlägt kurz darauf eine ein. Die Kinder können schon genau unterscheiden, wie ein Mörser, eine Bombe oder eine Panzergranate klingt. Das ist es, was sie heute lernen."

Der Tod ist allgegenwärtig in Aleppo

Wir fahren weg von dort, in eines der äußeren Stadtviertel Aleppos, wo es vielleicht etwas sicherer ist. Es ist Mittag. Irgendwo in der Ferne ruft ein Muezzin zum Gebet. Und irgendwo in der Nähe wird plötzlich geschossen. Die Straßen leeren sich in Sekunden. Und wenn es vorbei ist, kehrt das Leben wieder zurück: Frauen, die hastig ihre unterbrochenen Einkäufe fortsetzen. Alte Männer, die nach der Schießerei in Straßencafés ihren Tee fertig trinken. Wie sich zurecht finden in diesem Nebeneinander von Leben und Tod, der jeden jederzeit treffen kann in Aleppo?

Radikale Islamisten als einzige Hoffnung

"Wir haben keinen Strom, kein Wasser, kein Kochgas", schreit eine wütende Frau. Sie hält einen Kanister unter ein Brunnenrohr. Und hinter ihr drängen sich hunderte mit Plastikkanistern. "Keiner hilft uns, keiner schickt uns was, nur Assad, der schickt uns seine Flugzeuge und Bomben."

Wer sie in dieser Stadt noch verteidigt, wollen wir wissen. Nusra, sagt sie, die kämpfen für uns und für den Islam, die opfern sich für uns auf. Überall hört man jetzt den Namen der radikalen Islamistenmiliz, der Nusra-Front. Ihr Erfolg ist das greifbarste Ergebnis westlicher Passivität im syrischen Bürgerkrieg. Weder Europa noch die USA haben den notleidenden Zivilisten im Kriegsgebiet bislang humanitäre Hilfe gewährt. Das leisten nun die Kämpfer der radikalen Milizen, die Geld aus Saudi-Arabien bekommen und damit die verarmte und  ausgebombte Bevölkerung unterstützen.

"Nusra, das sind die Einzigen, auf die wir uns noch verlassen können", sagt ein junger Mann. Amerika, Russland, Großbritannien, Frankreich - alle hätten die Syrer im Stich gelassen, nur nicht die Nusra. "Glaub mir, ich bin kein Fanatiker, kein Terrorist, kein Islamist. Aber wer verteidigt uns noch, wenn nicht die Leute von Nusra?" 

Der März war der bislang blutigste Monat in diesem Krieg: Über 6000 Tote wurden gezählt, viele davon sind in Aleppo gestorben. Viele liegen noch unter den Trümmern in der Scheich Schana-Straße.