Interview

Nahost-Experte Fürtig "Ägypten braucht eine Ruhephase"

Stand: 04.07.2013 20:22 Uhr

Eine echte Alternative zu Mursi hat die ägyptische Opposition nicht zu bieten: Sie sei noch zu schlecht organisiert, sagt der Nahostexperte Fürtig im Gespräch mit tagesschau.de. Auch eine integrierende Persönlichkeit fehle. Er warnt daher vor zu schnellen Neuwahlen.

tagesschau.de: Was haben wir gerade in Ägypten erlebt: einen legitimen Umbruch oder einen "Putsch", wie der gestürzte Präsident Mursi sagt?

Prof. Henner Fürtig: Rechtlich gesehen haben wir es schon mit einem Putsch zu tun - denn das Militär hat einen gewählten Präsidenten entmachtet. Es beruft sich aber auf einen Paragrafen eben jener Verfassung, dass es das Recht zum Eingreifen hat, wenn die nationale Sicherheit gefährdet ist. Wenn man die Bilder von Hunderttausenden auf den Straßen sieht und die zunehmende Zahl von Toten, dann kann das Militär das schon so interpretieren. Und ihr Argument ist, dass es lediglich den Volkswillen durchsetzt und den Vorwurf eines Putsches weit von sich weist.

Zur Person
Prof. Dr. Henner Fürtig ist Direktor des GIGA Instituts für Nahost-Studien in Hamburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich u.a. mit politischen Reformen. In einem seiner aktuellen Projekte - "Macht, Führung und regionale Ordnung" geht es um "Potenzen und Grenzen nahöstlicher Führungsmächte", unter anderem in Ägypten.

tagesschau.de: Nach der Absetzung Mursis wird das Militär nun bis zu Neuwahlen eine Expertenregierung einsetzen. Hat es wirklich keine eigenen Interessen bei der Bildung einer neuen Regierung?

Fürtig: Das ägyptische Militär hat wie bisher kein großes Interesse daran, die politische Macht direkt auszuüben. Das widerspricht auch seiner Tradition. Es hat große wirtschaftliche Interessen, aber es hat sich noch nie politisch in die erste Reihe gedrängt. Insofern wird es durchaus ernst gemeint sein, dass sich jetzt eine Expertenregierung kümmern soll.

tagesschau.de: 2011, nach dem Sturz Mubaraks, hatte das Militär mit seinem harschen Eingreifen bei Protesten nach dem Umsturz die Stimmung sehr schnell gegen sich aufgebracht. Wie wird es sich jetzt verhalten?

Fürtig: Die Armee hat aus dieser Zeit gelernt. Am liebsten wäre es dem Militär - das hat Militärchef Sisi ja auch deutlich gemacht - wenn jetzt eine Übergangsregierung eine Verfassung ausarbeiten lässt und die notwendigen politischen Voraussetzungen schafft, um tatsächlich in absehbarer Zeit zu Neuwahlen zu kommen. Wenn das gelänge, dann wären die Interessen des Militärs am besten bedient.

tagesschau.de: Und wie wären die Interessen des Volkes am besten bedient? Wie muss eine Regierung aussehen, damit es im Land stabil bleibt?

Fürtig: Was Ägypten gegenwärtig nicht braucht, sind sehr schnelle Neuwahlen. Darauf ist die politische Landschaft einfach nicht vorbereitet. Wir würden da wieder nur unversöhnliche Interessen aufeinanderprallen sehen - mit möglicherweise noch fatalerem Ausgang. Was das Land jetzt braucht, ist eine gewisse Konsolidierungs- und Ruhephase. Es müssen die legalen Rahmenbedingungen für Wahlen vorbereitet werden, sprich: eine gültige Verfassung, die so nicht existiert. Und es müssen Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds aufgenommen werden - zwecks Kreditstreckung, Kreditstundung - um die wirtschaftliche Lage zu beruhigen. Denn vor allem deshalb gehen die Hunderttausenden von Menschen ja in nackter Verzweiflung auf die Straße. Erst wenn in diesem Sinne stabile Verhältnisse eingekehrt sind, sollten die Menschen - unter ganz anderen Bedingungen - erneut zur Wahl gehen.

tagesschau.de: Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage hatte die Muslimbruderschaft ja gerade unter der ärmeren Bevölkerung ursprünglich großen Rückhalt. Nun stehen Mursi und viele frühere Regierungsvertreter unter Arrest. Aber damit sind sie ja nicht einfach verschwunden.

Fürtig: Nein, die Muslimbrüder bleiben eine der bestorganisierten - wenn nicht die bestorganisierte - Oppositionskraft. Jetzt hatten sie zum ersten Mal nach 85 Jahren Regierungsgewalt - an sich sind sie es ja gewohnt, Opposition zu sein. Das können sie auch viel besser als regieren. Die Frage ist: Wie gehen sie mit den Erfahrungen dieser kurzen Regierungsphase um, sind sie bereit, daraus zu lernen? Begreifen sie, dass Demokratie nicht bedeutet, dass man seine eigene Vorstellung zu hundert Prozent und mit Brachialgewalt durchsetzt, sondern dass das ein politischer Aushandlungsprozess ist?

tagesschau.de: Und - sind sie es?

Fürtig: Auch die Muslimbruderschaft ist kein monolithischer Block - da gibt es durchaus verschiedene Fraktionen. Aber diesen Lernprozess kann man ihr durchaus zutrauen. Das wäre die positive Variante. Die negative Variante ist, dass man sich bei den Muslimbrüdern jetzt verfolgt sieht und in Verschwörungstheorien verfällt.

tagesschau.de: Hat denn auch die Opposition seit 2011 gelernt? Ist sie heute besser aufgestellt?

Fürtig: Das ist in der Tat ein Strukturfehler der ägyptischen Opposition. Die Menschen, die Mubarak hinweggefegt haben, waren ja sehr, sehr schlecht organisiert. Sie hatten ein gemeinsames Ziel: "Weg mit Mubarak" ...

tagesschau.de: ... und jetzt hatten sie das Ziel "Weg mit Mursi".

Fürtig: Ja, im Negieren - im Sinne von "Hinweg mit dem verhassten Regime" - ist man sehr gut mittlerweile. Aber diese jungen Leute sind nicht wirklich politisch organisiert, das müssen sie auch erst lernen. Auch, wie man politische Programme entwickelt und um sie wirbt. Das ist ja alles noch in den absoluten Kinderschuhen, und ich hoffe, die Gesellschaft bekommt diesmal mehr Zeit, das auch tatsächlich zu entwickeln.

tagesschau.de: Wer könnte denn jetzt Mursis Rolle einnehmen - gibt es eine Figur, die die verschiedenen oppositionellen Strömungen vereinen kann? Der derzeitige Oppositionssprecher ElBaradei? Oder der Intellektuelle Hamdin Sabahi?

Fürtig: Die Opposition ist extrem zersplittert und zerstritten. Und eine ihrer größten Schwächen war bisher, neben der mangelnden Organisiertheit und Programmatik, dass es eben keine integrierende Persönlichkeit gibt, wo man sagen kann: Das ist das Gesicht und das ist die Stimme der Opposition. Es gibt sie einfach nicht.

Das Interview führte Anja Kelber, tagesschau.de

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