Interview

Russland-Experte zu Mord an Nemzow "Niemand ist sicher"

Stand: 02.03.2015 15:57 Uhr

Nach dem Mord an Kreml-Kritiker Nemzow sieht Russland-Experte Stefan Meister die russische Zivilgesellschaft massiv unter Druck. Im Interview mit tagesschau.de erklärt er, wie und warum Präsident Putin ein Klima der Angst befördert.

tagesschau.de: Nach der Ermordung des russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow sind in Moskau Zehntausende auf die Straße gegangen. Auf der anderen Seite steigen die Popularitätswerte für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Wie zerrissen ist die russische Gesellschaft?

Stefan Meister: Die russische Gesellschaft ist sicherlich zerrissen, allerdings nicht in zwei gleiche Teile. Der Großteil der Russen unterstützt Putin ausnahmslos, auch in dem Gefühl, dass man wieder wer ist. Dieser Teil folgt  auch gern den jetzt geäußerten Verschwörungstheorien: Dass die Amerikaner hinter dem Mord stecken. Oder die Islamisten. Oder die russische Opposition selbst.

Nur etwa fünf bis zehn Prozent der Menschen sind nicht dieser Ansicht. Dazu gehören auch die, die öffentlich getrauert haben. Wir müssen konstatieren, dass dieser Kreis immer kleiner geworden ist – eine Folge der gelungenen Propaganda, auch hinsichtlich der Krim, und der nationalistischen Tendenzen.

Die russische Zivilgesellschaft steht unter Druck, und sie schrumpft, wobei sie nach dem Ende der Sowjetunion eigentlich nie eine wirkliche Chance hatte, sich zu entwickeln. Russland fehlt zum Beispiel die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, die Aufarbeitung des Stalinismus.

Zur Person
Stefan Meister ist Russland-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik DGAP. Zu seinen Fachgebieten zählt die russische Außen- und Sicherheitspolitik. Schwerpunktmäßig analysiert Meister die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sowie zwischen Russland und der EU.

Meister hat Politikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Jena, Leipzig und Nischni Nowgorod studiert. Mehrfach war er als Wahlbeobachter für die OSZE tätig.

tagesschau.de: Warum hat es die russische Opposition zurzeit so schwer?

Meister: Das hängt mit dem Klima zusammen, in dem Dissidenten systematisch stigmatisiert werden – zu beobachten unter anderem auf der Pro-Putin-Demonstration vor zwei Wochen. Die Demonstranten trugen auch Plakate mit einem Foto Nemzows und erklärten ihn damit für vogelfrei als Teil der "fünfte Kolonne des Westens".

Die Stimmung ist nationalistisch, aufgeheizt und anti-amerikanisch. Der Feind lauert angeblich überall. Diese ohnehin schon gefährliche Mischung wird zusätzlich durch Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz angeheizt – alles, was man sich nicht wünscht.

Putin befördert das. Er sucht äußere und innere Feinde, um von der Legitimationsschwäche seiner Politik abzulenken. Weder wirtschafts- noch innenpolitisch agiert er erfolgreich. So bleibt die Korruption ein ungelöstes Problem.

"Ein Klima der Angst"

tagesschau.de: Was bedeutet Nemzows Tod für russische Opposition?

Meister: Nemzow war zeitweise Teil des Systems. Als Putin an die Macht kam, entwickelte er sich zu einem der führenden Oppositionspolitiker. Er war einer derjenigen, die keine Angst hatten. Er überschritt bestimmte rote Linien und überlebte es politisch wie physisch.

Nemzows Ermordung ist das klare Signal: Niemand ist sicher, niemand ist unantastbar. Damit wird noch mehr Angst in der Gesellschaft verbreitet.

tagesschau.de: Putin betont, er wolle das Verbrechen aufklären lassen. Kann man den Kreml-Chef in dieser Hinsicht ernst nehmen?

Meister: Wie ernst kann man den russischen Präsidenten überhaupt noch nehmen? Ich bin skeptisch. Seine Äußerung entspricht den Gepflogenheiten. Ich bezweifele aber, dass wir jemals die Hintergründe dieses Mords erfahren werden, wie bei vielen anderen Morden davor, die nie aufgeklärt worden sind.

Putins Politik war es ja, die zu diesem Klima der Angst geführt hat und womöglich bestimmte Leute glauben lässt, sie handeln im Sinne der russischen Führung, wenn sie Nemzow töten.

"Putin ist es egal, was das Ausland von ihm denkt"

tagesschau.de: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat Zweifel erkennen lassen, dass bei früheren Morden an Dissidenten "mit der erforderlichen Transparenz" ermittelt wurde. Wie sehr schadet Putin dieser Mord also außenpolitisch?

Meister: Spätestens seit der Ukraine-Krise wissen wir: Putin ist völlig egal, was das Ausland über ihn denkt. Seine Politik ist auf das Inland konzentriert, auf die Zustimmung in Russland. Ein schlechtes Image im Ausland, ein Disput mit dem Westen ist da eher förderlich als kontraproduktiv.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de

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