Alexej Nawalny

Vergifteter Oppositioneller Fall Nawalny - Berlin hat keinen Zweifel

Stand: 09.09.2020 02:43 Uhr

Die Bundesregierung tritt im Fall Nawalny ungewöhnlich hart gegenüber Moskau auf. Der Grund: Berlin ist nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios überzeugt von der Verantwortung staatlicher Stellen bei dem Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker.

Von Michael Götschenberg, ARD-Hauptstadtstudio und Kai Küstner, ARD Berlin

Wer genau auf die Wortwahl achtet, für den ist der Unterschied geradezu verblüffend: Nachdem im August vergangenen Jahres im Herzen der Hauptstadt ein Georgier am helllichten Tag erschossen wurde, reagierte die Bundesregierung vergleichsweise verhalten, geradezu vorsichtig. Noch Monate später und trotz des bereits bestehenden Verdachts der Bundesanwaltschaft, es könnte sich um einen staatlichen Auftragsmord handeln, beließ man es bei der - eher symbolischen - Ausweisung zweier russischer Diplomaten und der Klage, "dass wir von Russland leider keine aktive Hilfe bei der Aufklärung dieses Vorfalls bekommen haben",  wie es Kanzlerin Angela Merkel im Dezember 2019 formulierte.

Auffällig anders dagegen die ebenso rasche wie im Ton unmissverständliche Reaktion, nachdem ein Speziallabor der Bundeswehr nach Angaben der Kanzlerin zweifelsfrei nachgewiesen hatte, dass Kreml-Kritiker Alexej Nawalny Opfer eines Anschlags mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok geworden war. "Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss." So die Ansage Merkels an die Adresse Moskaus.

Es hat sich zu viel angestaut

Woher kommt auf einmal diese glasklare Sprache? Politiker, die der Kanzlerin nahestehen, verweisen unter anderem darauf, dass sich in den deutsch-russischen Beziehzungen einfach zu viel aufgetürmt habe in letzter Zeit: Angefangen mit der Annexion der Krim und der Einmischung in der Ostukraine durch Moskau, über das Verhalten in Syrien und Libyen, bis hin zum Anschlag auf Ex-Spion Sergej Skripal in Großbritannien und eben den Mord im Kleinen Tiergarten, bei denen die Spur den Behörden zufolge eindeutig nach Russland führt.

Dass sich bei Merkel so viel aufgestaut hatte, dass sie nun mit dem Fall Nawalny eine rote Linie überschritten sah, ist naheliegend. Hinzu kommt, dass Deutschland als EU-Ratspräsidentschaftsland unter ganz besonderem Handlungsdruck steht. Und der Versuch, mit Moskau eher behutsam über diplomatische Kanäle ins Gespräch zu kommen, in Sachen Tiergartenmord als gescheitert angesehen wird.

Das Gift deutet auf staatliche Stellen

Kaum vorstellbar, dass sich die Bundesregierung im Fall Nawalny so früh so eindeutig positioniert hätte, wenn dies nicht durch entsprechende Erkenntnisse der deutschen Nachrichtendienste unterfüttert gewesen wäre. Bei einer Sondersitzung des geheim tagenden Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages hatte die Bundesregierung die Abgeordneten am Montag über ihre Erkenntnisse rund um die Vergiftung von Alexej Nawalny informiert.

Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios haben die Vertreter der Bundesregierung und der Nachrichtendienste keinen Zweifel daran gelassen, dass die Vergiftung Nawalnys durch staatliche russische Stellen und mit Billigung der russischen Führung erfolgt sei. Nawalny sei mit einer Nowitschok-Variante vergiftet worden, die noch gefährlicher sei als der Stoff, der im Fall Skripal zur Anwendung gekommen sei. Bei dem Gift handele es sich um die Abwandlung einer bekannten, bereits gelisteten Variante der Nowitschok-Gruppe - besonders gefährlich auch deshalb, weil sie auch durch Einatmen in den Körper gelangen kann.

Die Herstellung und die Anwendung, wie im Fall Nawalny geschehen, erfordere Fähigkeiten, über die ausschließlich ein staatlicher Akteur verfüge, so die Einschätzung. Die Darstellung ließ demnach an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und erklärt, warum die Kanzlerin am Mittwoch überraschend deutlich den Angriff auf Nawalny "auf das Schärfste" verurteilte.

Ohne Notlandung wäre Nawalny gestorben

Das Gift, das Nawalny verabreicht worden war, war von Spezialisten im Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr in München analysiert worden. Dabei handelt es sich um eines von 17 Laboren weltweit, die über ein Zertifikat der internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen mit Sitz in Den Haag (OPCW) verfügen.

Der britisch-russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter waren im März 2018 mit Nowitschok vergiftet worden, hatten den Anschlag aber überlebt. In der Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums erklärten die Vertreter der Bundesregierung, Nawalny wäre mit Sicherheit gestorben, wäre der Pilot des russischen Inlandsfluges, auf dem er sich befand, nicht in Omsk notgelandet und Nawalny sofort im Krankenhaus behandelt worden.

Russland beschuldigt Deutschland

Die russische Regierung stellt nach wie vor in Frage, dass Nawalny überhaupt vergiftet wurde. Eine Sprecherin des russischen Außenministeriums forderte die Bundesregierung via Facebook erneut dazu auf, Beweise zu präsentieren und "die Karten offenzulegen". Für alle sei klar, "Berlin blufft, um einem schmutzigen politischen Getue dienlich zu sein". Die Schlacht um die Deutungshoheit ist in vollem Gange.

Streit um Gas-Pipeline

Indessen tobt in Deutschland weiter die Debatte über die deutsch-russische Gasleitung Nord Stream 2: Auch wenn das Schicksal der Ostsee-Pipeline noch ungewiss ist - zum ersten Mal überhaupt sind Warnungen aus der Bundesregierung in Richtung zu hören, dass der Fall Nawalny Folgen für die deutsch-russische Gasleitung haben könnte. Bis vor kurzem noch hatte Merkel stets erklärt, die Pipeline sei kein politisches, sondern ein rein wirtschaftliches Projekt. Doch nun ist selbst jene Rohrleitung, an der die Bundesregierung stets mit aller Macht festhielt, offenbar kein Tabu mehr.

Sollte die Kanzlerin je Zweifel an dem Ostsee-Projekt gehegt haben - der Streit mit Russland böte nun einen halbwegs eleganten Ausweg, es zu kippen. Oder zumindest auszusetzen. Ob Berlin aber bereit ist, den Preis, den das unweigerlich hätte, zu zahlen - politisch oder in Form von Entschädigungen - ist noch ungewiss.

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