Interview mit Afrika-Experte Rainer Tetzlaff "Afrika braucht Hilfe - aber nicht bedingungslos"
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Die Situation in den meisten afrikanischen Staaten ist nach wie vor katastrophal: Kriege, Krankheiten, instabile politische Systeme bedrohen die Bevölkerung des zweitgrößten Kontinents der Erde. Rainer Tetzlaff, Professor für politische Wissenschaft, gibt im Gespräch mit tagesschau.de einen Überblick über die Probleme Afrikas und die Strategien für eine sinnvolle Entwicklungshilfe.
tagesschau.de: Wer in Deutschland Nachrichten hört, könnte den Eindruck gewinnen, dass die Lage auf dem gesamten afrikanischen Kontinent katastrophal ist. Stimmt das?
Tetzlaff: Das ist natürlich nicht so. Gleichwohl räume ich ein, dass dieser Eindruck entstehen kann. Die Nachrichten über negative Entwicklungen überwiegen, und - man muss ja ehrlich sein - de facto gibt es ja auch sehr viel Negatives über afrikanische Länder zu berichten.
tagesschau.de: Die Probleme Afrikas sind schwer zu durchschauen. Woran mangelt es? Was funktioniert nicht?
Tetzlaff: Die Probleme sind schwer zu durchschauen, weil sie sehr komplex sind. Sie reichen weit in die Geschichte zurück und es gibt unterschiedlichste Faktoren. Nehmen wir einmal das Problem Krieg. Es gibt 13 oder 14 Kriege in Afrika. Das sind 40 Prozent aller Kriege, die weltweit noch geführt werden.
Zum Beispiel herrscht im Sudan ein seit 50 Jahren andauernder Konflikt zwischen Nord und Süd um die staatliche Machtverteilung und um die Identität der Bevölkerung. In Sierra Leone und Liberia ist das, was wir als Staatszerfall bezeichnen, die Konfliktursache.
tagesschau.de: Was versteht man unter Staatszerfall?
Tetzlaff: Der Staatszerfall ist ein Prozess, in dem der postkoloniale Staat, der etwa 1960 von den europäischen Kolonialmächten in die Freiheit entlassen worden ist, aus unterschiedlichsten Gründen allmählich kollabiert: Weil Ressourcen fehlen, die Infrastruktur nicht instand gehalten wird, es an Geld mangelt, Korruption am Werk ist. Es gibt keine Kontrollen. Das was wir "gutes Regieren" nennen - "Good Governance" im Fachjargon - ist in diesen Staaten nicht mehr möglich. Und wenn dann das Gewaltmonopol des Staates zerfällt, nisten sich in den Hohlräumen, die dadurch entstehen, Gruppen ein, die Gewalt anwenden - Warlords etwa, die sehr viel Unheil anrichten. Die Gewalt wird privatisiert.
Das ist vielleicht der wichtigste Hintergrund zum Verständnis Afrikas heute. Die große Errungenschaft Europas, dass das Gewaltmonopol beim Staat angesiedelt ist und nur der Staat legitimerweise im Notfall Gewalt anwenden darf, gibt es in Afrika vielerorts nicht oder nicht mehr.
"Fluch der Rohstoffe"
tagesschau.de: Spielt nicht auch die geografische Lage der einzelnen Länder und ihr Reichtum an Rohstoffen eine entscheidende Rolle?
Tetzlaff: Das stimmt. Es gibt viele Binnenstaaten in Afrika, die Sahelzonen-Staaten und kleine Staaten, die kaum lebensfähig sind. Diese Länder haben besondere Probleme, die auf die Kolonialgeschichte zurückzuführen sind. Damals ist Afrika in viele kleine und manche sehr große Länder aufgeteilt worden, die schwer zu regieren sind, wie etwa Sudan, Algerien, Tschad oder die Zentralafrikanische Republik.
Außerdem hat die Entkolonialisierung im südlichen Afrika besondere Probleme ausgelöst. Reiche Staaten wie etwa Angola oder Mosambik haben jahrelang unter der kolonialen Erblast gelitten, weil die Dekolonisation nicht friedlich verlaufen ist und rivalisierende Gruppen entstanden sind, die um die Macht kämpfen. Sie sind dann außerdem von außen unterstützt worden - von Südafrika zum einen, von der Sowjetunion und Kuba zum anderen. Diese Probleme sind zwar allmählich überwunden worden. Aber sie haben diese Länder sehr zurückgeworfen.
Zu den Ursachen gehört außerdem der "Fluch der Rohstoffe". Afrika ist reich gesegnet an Rohstoffen. Aber wenn sie gefördert werden in einem politischen System, in dem Korruption überwiegt und keine wirkliche Regierungs- und Machtkontrolle institutionalisiert ist, wirkt sich der Rohstoffreichtum oft zum Schaden der Bevölkerung aus.
tagesschau.de: Sie haben in diesem Zusammenhang den Begriff "Kleptokratie" verwendet.
Tetzlaff: Das ist die "Herrschaft der Diebe". Zaire unter Präsident Mobuto ist die Inkarnation dieser Herrschaftsform gewesen. Ein skrupelloser Militär, der das Land ausgebeutet hat über drei Jahrzehnte zum Nutzen von einer kleinen Clique, die man Kleptokraten nennen kann. Die Grundlage dafür war der Rohstoffreichtum des Landes, der in einer Komplizenschaft mit einigen externen ausländischen Unternehmen ausgebeutet worden ist. Die Bevölkerung ist unter Mobutos Herrschaft enorm verarmt, obwohl das Land von der geografischen und geologischen Ausstattung her durchaus entwicklungsfähig ist und ein blühendes Land werden könnte.
tagesschau.de: Gibt es denn keine Lichtblicke auf dem ganzen Kontinent?
Tetzlaff: Von den 48 Staaten südlich der Sahara haben wir acht bis zehn Hoffnungsträger, in denen sich eine demokratische Kultur entwickelt hat, ein Mehrparteiensystem – faire, gleiche und gerechte Wahlen. Das sind Ghana und Mali in Westafrika. Das gilt allmählich auch für Kenia. In Tansania gab es keinen Staatszerfall, sondern eine Zivilregierung, die auch etwas für die Bevölkerung tut. Es ist erstaunlich zu sehen, dass es etwas gibt wie eine Entwicklung von Demokratie unter Armutsbedingungen. Das hat man früher nicht für möglich gehalten. Man dachte immer, Demokratie ist etwas für reiche Gesellschaften.
Ein Problem ist, dass das einzelne Inseln in einem Meer von instabilen anderen Regionen sind. Man weiß nicht genau, ob diese hoffnungsvollen Länder überleben können, wenn an den Grenzen Warlords ihr Unwesen treiben, auch über die Grenze kommen und das Nachbarland zu destabilisieren versuchen. Die Demokratien sind labil und müssen von außen gestützt werden. Vor allen Dingen wenn die Ressourcenbasis knapp ist.
"Hausgemachte" Probleme überwiegen
tagesschau.de: Woher kommen die Unterschiede: Sind sie alle Folgen der Kolonialgeschichte, der Welthandelsbedingungen, der geographischen Bedingungen oder sind sie hausgemacht?
Tetzlaff: Wenn man es wissenschaftlich betrachtet, gibt es drei Bündel von Ursachen. Das sind zunächst die historischen. Das sind die endogenen, die hausgemachten Faktoren, die etwas zu tun haben mit der Regierungsführung und dem Verhalten der Eliten. Und dann gibt es externe Gründe. Das sind zum Beispiel niedrige Rohstoffpreise für Kakao oder Erdnüsse, die die Hauptexportprodukte afrikanischer Länder sind und von denen diese Gesellschaften leben. Wenn die Preise stark in den Keller gehen, dann ist das natürlich ein großes Handicap für die Entwicklung.
tagesschau.de: Welcher Faktor ist am wirkmächtigsten?
Tetzlaff: Es sind hauptsächlich die hausgemachten Faktoren, die heute dafür sorgen, dass sich viele Länder - wie zum Beispiel Simbabwe - schlecht entwickeln, obwohl die Ressourcenbasis ganz gut ist. Deshalb muss Entwicklungshilfe dort ansetzen, indem man versucht, über die Veränderung der politischen Verhältnisse in Richtung auf Demokratie und Schutz der Menschenrechte auch ökonomisch voranzukommen.
Diese Erkenntnis beruht auf Fehlschlägen in der Vergangenheit. Das Postulat heißt "good governance" - gute Regierungsführung, die korruptionsfreie transparente Verwaltung von öffentlichen Geldern beinhaltet. Das ist der richtige Ansatz, um wirtschaftliche Fortschritte zu erzielen. Denn in den afrikanischen Staaten südlich der Sahara gibt es keine Unternehmerkultur wie in den Industriestaaten, die die wirtschaftliche Entwicklung von sich aus voranbringen könnte. Der Staat, der die Rahmenbedingungen setzt, muss ein Rechtsstaat sein bzw. werden. In den meisten afrikanischen Staaten kann man sich nicht auf Gesetze und Verordnungen verlassen, denn es gibt keine unabhängige Justiz.
tagesschau.de: Können denn andere Staaten in die Politik der afrikanischen Staaten direkt eingreifen?
Tetzlaff: Von den 48 Staaten südlich der Sahara sind 32 sehr stark abhängig von externen Entwicklungshilfegeldern. Das sind Steuergelder aus Europa, die die Regierungen verantworten müssen, wofür sie ausgegeben werden. Und von daher finde ich es richtig, dass man sich gemeinsame Spielregeln überlegt, wie man aus der Krise herauskommen will.
tagesschau.de: Das heißt, an die Gelder werden also Bedingungen geknüpft?
Tetzlaff: Ja, und das halte ich auch für unabdingbar, solange es keine vollentwickelten Demokratien sind. Später kann man es sicher auch mal der Bevölkerung vor Ort überlassen, die Herrschaft zu kontrollieren. Aber so lange es noch häufig despotische oder sehr autoritäre Regierungen sind, die nicht von einer Zivilgesellschaft kontrolliert werden können, ist eine Kontrolle von außen notwendig. Zumindest im Sinne eines Dialogs, den man über die Frage "Wie will man aus der Misere herauskommen" führt.
Hilfe braucht einen langen Atem
tagesschau.de: Neben Spendenaktionen für humanitäre Katastrophen sollte es also die langfristige Förderung bestimmter Projekte geben. Welche könnten das sein?
Tetzlaff: Wir brauchen Katastrophenhilfe nach wie vor für besondere Fälle. Aber noch wichtiger ist es, Institutionen aufzubauen, die tragfähig sind, um einen Staatskollaps zu verhindern. Denn wenn der Zusammenbruch von staatlichen Einrichtungen durch Missmanagement und Korruption weiter voranschreitet, erhöht sich die Kriegsgefahr. Dann haben wir wieder so schreckliche Szenarien wie in Sierra Leone oder Liberia, Somalia, wo Staaten fast völlig zusammengebrochen sind. Dann gibt es überhaupt keine Perspektive mehr für eine Bevölkerung, aus dem Elend herauszukommen. Den jungen Talentierten bleibt dann nur, entweder zum Warlord zu werden oder zu fliehen. Entwicklungshilfe ist nichts Kurzfristiges, da muss man einen langen Atem und viel Geduld haben.
tagesschau.de: Ist das irgendwo gelungen?
Tetzlaff: Ghana ist ein gutes Beispiel. Dort ist das Mehrparteiensystem auch von außen gefördert worden. Ein General Jerry John Rawlings hat zunächst versucht, das Land mit diktatorischen Mitteln von Korruption und Elend zu befreien. Das funktionierte nicht. Er war dann bereit, eine Bürgererziehung, die Bildung der Bürger, zuzulassen durch Nichtregierungsorganisationen. Parteistiftungen haben zum Beispiel ein Bildungsprogramm aufgelegt. Im Fernsehen, im Rundfunk, in Vorträgen und bei Theateraufführungen wurde die Botschaft verbreitet: Es lohnt sich, eine Zivilgesellschaft aufzubauen, einen Rechtsstaat und eine neue Verfassung. Kirchengruppen, Frauengruppen, Gewerkschaftsverbände - alle Organisation unterhalb der staatlichen Ebene sind mobilisiert worden.
Oder Malawi – dort hat zum dritten Mal eine Wahl stattgefunden. Malawi ist eines der ärmsten Länder im Süden Afrikas. Auch dort ist eine ganz aktive Zivilgesellschaft von außen unterstützt worden, die es jetzt wagt, sich gegen die korrupte Regierung zur Wehr zu setzen, indem sie Proteste und Demonstrationen organisiert. Die Förderung der Nichtregierungsorganisationen halte ich für eine sehr gute und richtige Initiative.
tagesschau.de: Kriege, Staatsverfall, schwierige geographische und wirtschaftliche Bedingungen sind drei der wichtigsten Problemkomplexe, die Sie genannt haben. Hinzu kommt Aids. Kann Afrika – der Kontinent mit der höchsten Zahl an Aids-Infizierten – allein mit diesem Problem fertig werden?
Tetzlaff: Afrika kann das Problem nicht alleine lösen. Aids ist vor allem ein Problem im südlichen Afrika, aufgrund der Wanderarbeit und anderer Faktoren. Eine ganze Generation von Menschen wird dahingerafft. Das sind gerade die besser Ausgebildeten. Es schadet der Bevölkerung in ganz massiver Weise. Für diese Generation gibt es kaum noch Hoffnung.
Jugendliche wachsen ohne Eltern und ohne Anleitung auf. Viele werden in kriminelle Banden gedrängt. Dadurch, dass die Elterngeneration frühzeitig stirbt, fehlen Arbeitskräfte, die auf den Feldern Nahrungsmittel angebaut hätten. Wir haben also eine Korrelation zwischen wachsendem Hunger vor allem in ländlichen Gebieten und der Aids-Verbreitung.
Wir können nur hoffen, dass sich einige positive Projekte wie zum Beispiel in Uganda verbreiten und das andere Länder dies übernehmen - Aufklärung, Verteilung von Verhütungsmitteln, also Prophylaxe im großen Umfang. Dazu muss der Ausbau des Gesundheitswesen kommen. Das geht nur mit Hilfe von außen. Günstigere Medikamente müssen angeboten werden, um wenigstens die schlimmsten Folgen für HIV-Infizierte mildern zu können.
Das Interview führten Sabine Müller und Nea Matzen. tagesschau.de