Nigel Farage, EU-Abgeordneter für Großbritannien und Vorsitzender der Brexit-Partei, unterschreibt ein Plakat während einer Wahlkampfveranstaltung.
Analyse

Großbritannien Mays Brexit-Strategie stärkt Populisten

Stand: 23.05.2019 15:55 Uhr

Seit May ein zweites Referendum ins Spiel gebracht hat, spitzt sich die Lage in Großbritannien zu. Erneut tritt eine Ministerin zurück. All das könnte Populisten stärken.

EU-Ratspräsident Donald Tusk muss schaudern, wenn er sich das unwürdige Spektakel ansieht, das die britische Premierministerin Theresa May und ihre Tory Partei derzeit in Westminster aufführen. Die Briten mögen den sechsmonatigen Brexit-Aufschub  doch bitte gut nutzen und diese kostbare Zeit nicht ein weiteres Mal verschwenden, hatte er London fast flehentlich gebeten, nachdem Brüssel Grossbritannien eine weitere Verlängerung bis Ende Oktober zugestanden hatte.

Aber niemand in Westminster hört auf Tusk in diesen Tagen. Denn niemand in der Regierung interessiert sich besonders für das, was aus Brüssel kommt. Und niemand interessiert sich für die Europawahlen, die ja heute trotz allem stattfinden.

Tories sind mit sich selbst beschäftigt

Die Tories tun stattdessen genau das, wovor Tusk gewarnt hat. Sie verschwenden die kostbare Zeit ein weiteres Mal und opfern sie ausschliesslich parteiinterner Kabale, Intrigen und immer brutaleren Machtkämpfen um die Nachfolge Mays. Der internationale Ruf der Briten, der dabei zunehmend auf dem Spiel steht, ist ihnen dabei genauso gleichgültig wie die Tatsache, dass das Land so immer näher an die Klippe des ökonomischen Abgrunds rückt.

Seit Theresa May am Dienstag in einem letzten verzweifelten Versuch, ihren Entwurf noch einmal vors Parlament zu bringen, erklärt hatte, der Opposition die Abstimmung über ein zweites Referendum anzubieten, drehen die Hardliner durch. Und so kam es gestern zu selbst für hiesige Verhältnisse ausserordentlichen Szenen: Minister, die vor Theresa Mays Tür stehen, um sie in den Rücktritt zu drängen, aber nicht hineingelassen wurden; "Parteifreunde", die sich dann anderswo treffen, um ihren Sturz zu planen. "Game of Thrones" ist ein harmloses Ammenmärchen dagegen.

Theresa May bei ihrer Rede zum Brexit

Dass Premierministerin Theresa May ein zweites Referendum ins Spiel gebracht hat, hat viele verärgert.

Rücktritt stellt May vor weitere Schwierigkeiten

Am Abend dann tritt Andrea Leadsom, die Unterhausministerin von ihrem Amt zurück. Es ist der 36. Rücktritt seit dem Referendum. Damit ist jetzt auch das letzte bisschen Disziplin in dieser Regierung endgültig zusammengebrochen - und das für alle sichtbar, pünktlich zu den Hauptabendnachrichten, am Vorabend der Europawahlen.

Allen Umfragen zufolge wird heute Nigel Farage mit seiner antieuropäischen Brexit-Partei als klarer Sieger durchs Ziel gehen. In den Umfragen liegt er bei 30 Prozent, während Theresa Mays Konservative sogar unter der 10-Prozent-Marke landen. Das könnte das Ende des traditionellen Parteiensystems in Grossbritannien einläuten. Denn auch wenn bei Neuwahlen weiterhin das britische Mehrheitswahlrecht gilt, und das Nigel Farages Anti-Europäern das Leben schwerer macht, dürften die Tories sich von dem bizarren Schauspiel, das sie rund um den Brexit seit 2016 aufführen, wohl kaum schnell erholen.

Briten verlieren Vertrauen in Demokratie

Und es kommt noch schlimmer: Theresa Mays fatale Brexit-Strategie hat den Boden bereitet für etwas, was weit gefährlicher sein könnte, als das was wir in den letzten Jahren gesehen haben: ein Land, in dem das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie so untergraben wurde, dass die Wähler nun in Scharen zu nationalistischen Populisten überlaufen. Diese kanalisieren zwar den Frust und die Verzweiflung, haben ansonsten aber keine Lösungen.

Spätestens, wenn die Tories sich im Herbst auf einen Nachfolger für May geeinigt haben, und deutlich wird, dass auch ein Boris Johnson, oder wer immer es dann sein wird, kein Patentrezept aus dem Hut ziehen kann, wird Farages Stunde erneut schlagen.

Damit sind wir übrigens schon fast im Oktober, dem Monat, an dessen Ende die sechsmonatige Brexit-Verlängerung dann auslaufen wird. Donald Tusk wird wieder häufiger an seine alte Mahnung erinnert werden, bei Interviews, in Talkshows oder Fernsehnachrichten. Grossbritannien dürfte sich im Herbst in einer noch verfahreneren Lage befinden, als jetzt schon.

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