Pelletfabrik in Osula (Estland)

Estland Kahlschlag für Holzpellets

Stand: 18.04.2023 07:24 Uhr

Immer mehr europäische Kohlekraftwerke stellen auf Holzpellets um - zulasten der Natur. So wird etwa Estland, Europas größter Pelletlieferant, in hohem Tempo abgeholzt. Umweltaktivisten sind alarmiert.

Von Thomas Kruchem, BR

Besuch in Lääne-Virumaa, einem dünn besiedelten Landkreis im Nordosten von Estland. Liina Steinberg steht an einer Stichstraße, die 90 Hektar Staatswald erschließt. In diesem Wald sei sie aufgewachsen, sagt die Leiterin der Waldschutzorganisation "Rettet Estlands Wälder".

Kahlschlag für erneuerbare Energie

Einen Steinwurf entfernt knickt ein gelber Harvester Birken um wie Strohhalme. Statt dichten Waldes klaffen Kahlschlagflächen in der Landschaft. Estland - kleiner als Niedersachsen und noch zur Hälfte bewaldet - wird in hohem Tempo abgeholzt: Das kleine Land ist Europas größter Pellet-Exporteur. Ein Großteil des estnischen Holzes nämlich wandert in europäische Kohlekraftwerke, die umstellen auf Pellets - auf hochsubventionierte, angeblich erneuerbare Energie. Ein Irrweg, wie sich zusehends zeigt: Zwar nicht in Deutschland, aber in der EU insgesamt wird inzwischen mehr abgeholzt als nachwächst.

Entlang der Stichstraße im estnischen Landkreis Lääne-Virumaa verlaufen anderthalb Meter tiefe Entwässerungskanäle. Sie lassen den Waldboden austrocknen, um Erntemaschinen den Zugang zu erleichtern. In der Wand eines Kanals zeichnet sich deutlich die 50 Zentimeter dicke Torfschicht im Boden ab.

Kahlschläge mit Entwässerungsräben die starke Torfschichten freilegen.

Entwässerungsgräben sollen den Wald leichter für Erntemaschinen zugänglich machen.

Effizient, kostengünstig, zerstörerisch

Waldschützerin Steinberg zeigt, mit Tränen in den Augen, auf riesige Kahlschlagflächen, soweit das Auge reicht: Birken, Kiefern, Eschen, Eichen - alles weg. Kahlschlag sei die seit langem übliche Methode der Waldbewirtschaftung in Estland, erklärt sie. Effizient, kostengünstig, zerstörerisch: Der Boden wird aufgerissen und setzt dann große Mengen CO2 frei. Säugetiere, Amphibien, Insekten und zahllose Pflanzen verlieren ihren Lebensraum. Und die bis zu 15 Tonnen schweren Maschinen verdichten den Waldboden.

Steinberg deutet auf die einen halben Meter tiefe Spur einer Erntemaschine: "Die ist vor etwa drei Jahren hier gefahren und hat diesen Graben hinterlassen - für die nächsten Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte. Und es ist sehr schwierig, hier etwas neu zu pflanzen."

Zahllose Baumstämme werden geschreddert

Zehn bis zwölf Millionen Kubikmeter Holz werden in Estland jedes Jahr eingeschlagen - doppelt so viel wie zur Sowjetzeit. Mehr als die Hälfte ist von vornherein Brennholz - Holz, das Estlands ländliche Bevölkerung zum Heizen braucht, und Holz für die Pelletindustrie.

Außerhalb des Dorfes Osula im Südosten des Landes steht die nagelneue Pelletfabrik des Unternehmens Graanul, des größten Pelletherstellers in Europa. Lastwagen um Lastwagen voller Stämme passieren die Kontrollen am Eingangstor. Tausende Stämme liegen gestapelt auf dem Werksgelände, die Anlage läuft rund um die Uhr - so wie das Sägewerk eines anderen Unternehmens gleich nebenan. Etwa 2,5 Millionen Tonnen Pellets produziert Graanul pro Jahr - in elf Fabriken, verteilt über die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen.

Ukraine-Krieg sorgt für mehr Nachfrage

Die wichtigsten Käufer seien Kraftwerke in Dänemark, den Niederlanden und Großbritannien, erklärt Unternehmenssprecher Mihkel Jugaste. "Der globale Pelletmarkt ist schon vor dem Ukraine-Krieg sehr schnell gewachsen. Aber der Krieg hat in Europa einen zusätzlichen Wachstumsschub ausgelöst. Man setzt nun verstärkt auf sichere und innerhalb der eigenen Grenzen verfügbare Energiequellen."

Graanul, das heute einem US-Investmentfond gehört, produziere Pellets zu 55 Prozent aus Sägewerksabfällen und zu 45 Prozent aus minderwertigem Stammholz, sagt Jugaste. Sehr viel estnisches Stammholz muss minderwertig sein - dieser Gedanke drängt sich auf beim Blick auf zahllose 40 oder 50 Zentimeter dicke Stämme auf dem Gelände der Pellet-Fabrik.

Estlands Wälder: Statt Kohlenstoffsenke Netto-Emittent

Estlands Umweltminister Madis Kallas ist als Vertreter der kleinen Sozialdemokratischen Partei ziemlich machtlos gegen den Kahlschlag in seinem Land. Kallas gilt als integrer Mann offener Worte. Scharf kritisiert er, dass bis heute Kahlschlag auch in Estlands Nationalparks und "Natura 2000"-Schutzgebieten erlaubt ist. "Unsere Umweltschutzgesetze sind schwach. Und dafür ist nicht die Holzindustrie verantwortlich. Nein, verantwortlich sind die 101 Mitglieder unseres Parlaments, die zum Beispiel den Holzeinschlag während der Brutzeit erlaubt haben. Die Industrie nutzt nur diese Gesetzeslage, um maximale Gewinne zu erzielen."

Tatsächlich sind Estlands Wälder, die eigentlich Kohlenstoffsenken sein sollten, seit 2018 Netto-Emittent von Kohlenstoff. Auch deshalb hat der Umweltminister von seinem Recht Gebrauch gemacht, das Einschlagvolumen im Staatswald für ein Jahr zu kürzen - um immerhin zehn Prozent.

EU-Sanktionen wegen Kahlschlag in Schutzgebieten

"Hoffentlich wachen auch andere Politiker bald auf", sagt Umweltschützerin Steinberg. "Hoffentlich verbieten sie zumindest das Abholzen von "Natura 2000"-Gebieten ohne Umweltverträglichkeitsgutachten." Wegen solcher Abholzung hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Estland eingeleitet. Ein Verfahren, das allerdings viele Jahre dauern kann.

Diese Zeit habe Estlands Wald nicht, sagt die Umweltaktivistin und klagt mit ihrer Organisation "Rettet Estlands Wälder" jetzt vor estnischen Gerichten. "Wir möchten alle Abholzungen in 'Natura 2000'-Gebieten ohne Umweltverträglichkeitsprüfungen verbieten lassen."

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