Spaziergänger an der Ostsee

Neue Studie 65 Millionen leiden an Long Covid

Stand: 23.01.2023 04:59 Uhr

Mindestens zehn Prozent aller Infizierten weltweit kämpfen mit den Spätfolgen einer Corona-Infektion, so das Ergebnis einer neuen Studie. Die Autoren kritisieren: Die Diagnose- und Behandlungsoptionen seien unzureichend.

Von Leander Beil, BR

Das Spektrum der Symptome ist vielfältig - die Schwere variiert: Nach einer Corona-Infektion kann es zu länger andauernden Beschwerden kommen, zusammengefasst unter dem Begriff Long Covid. Laut einer neuen Überblicksstudie in der Fachzeitschrift "Nature Reviews Microbiology" folgt Long Covid auf mindestens zehn Prozent der Covid-Infektionen. Das heißt, dass inzwischen weltweit ungefähr 65 Millionen Menschen unter Corona-Spätfolgen leiden.

Allein in Deutschland geht man von mindestens einer Million Betroffenen aus. Für ihren Fachartikel werteten die Forschenden die aktuelle Studienlage zum Thema aus. Dabei bezogen sie auch Ergebnisse aus der jahrzehntelangen Forschung zu Krankheiten wie der Myalgischen Enzephalomyelitis und dem Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) mit ein.

Mehr als 200 Krankheitssymptome identifiziert

Mit dem Begriff Long Covid sind all jene Symptome gemeint, die ab vier Wochen nach einer Corona-Erkrankung auftreten oder noch vorhanden sind. Müdigkeit und Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Konzentrations- sowie Gedächtnisprobleme oder Muskelschwäche: Das sind nur einige wenige der möglichen Beschwerden. Mittlerweile seien mehr als 200, oft unterschiedlich schwer auftretende Symptome identifiziert worden, so die "Nature"-Studie.

Diese können sich auf eine Reihe von Organsystemen auswirken: von Herz und Lunge über Magen und Darm bis zu den Geschlechtsorganen und Blutgefäßen. Coronaviren können die "kritische Infrastruktur" in unserem Körper angreifen und langfristig schädigen. Außerdem zeigen erste Forschungsergebnisse, dass das Risiko für Folgeschäden auch nach der zweiten und dritten Infektion nicht abnimmt.

Die meisten Long-Covid-Patienten werden nach einigen Wochen oder Monaten wieder gesund. Carmen Scheibenbogen, Leiterin des Fatigue Centrums an der Berliner Charité, sagt jedoch, sie wisse aus eigener Erfahrung, dass eine ganze Reihe von Betroffenen teils so schwer erkrankt sei, dass sie arbeitsunfähig und teils bettlägerig seien. Bei manchen kann nämlich aus Long Covid eine dauerhafte, noch schlimmere Krankheit werden: zum Beispiel die neuroimmunologische Erkrankung ME/CFS.

ME/CFS: Schwindel, Muskelschmerzen, Crash

Laut Scheibenbogen handelt es sich hierbei um eine komplexe und stark behindernde Erkrankung. Schon vor der Corona-Pandemie hätten viele Menschen daran gelitten. Auslöser kann also nicht nur eine Covid-Infektion sein, sondern auch eine Ansteckung mit dem Epstein-Barr-Virus oder einem Influenza-Erreger.

Durch so eine vorangegangene Infektion gerät zunächst der Energiestoffwechsel der Körperzellen durcheinander. Die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, werden beeinträchtigt. Das raubt dem Körper Energie. Er sucht sich dann andere Wege der Energiebereitstellung, die jedoch nicht so effektiv sind. Massive kognitive Störungen, starke Schmerzen, Schlafstörungen oder ein extremes Schwächegefühl sind bei ME/CFS mögliche Beschwerden. Bislang kann die Erkrankung nicht ursächlich behandelt werden. Die Ärzte können die Symptome aber durchaus lindern.

Wirkung von Impfstoffen: Keine eindeutige Studienlage

Solche Folgebeschwerden können nach einer Infektion auch trotz Covid-Impfung auftreten, zeigt die neue "Nature"-Studie. Allerdings kommen die Studien hier nicht zu einem eindeutigen Ergebnis: Eine Untersuchung findet demnach keinen signifikanten Unterschied in der Entwicklung von Long Covid bei Geimpften und Ungeimpften. Andere Forschungsarbeiten wiederum beziffern das durch eine Impfung verringerte Risiko für Long Covid auf 15 bis 41 Prozent.

Betroffene fordern bessere Versorgungsstrukturen

Mia Diekow von der Betroffeneninitiative "Long COVID Deutschland" ist selbst vor knapp drei Jahren an Corona erkrankt und seitdem nicht wieder richtig gesund geworden. Sie spricht von einem nicht haltbaren Zustand. "Wir brauchen ganz dringend bessere Versorgungsstrukturen. Es gibt auch Patientinnen und Patienten, die sind nicht in der Lage, das Bett zu verlassen." Das Krankheitsbild ME/CFS sei lange bekannt. Doch es sei nie ausreichend untersucht worden.

In vielen Bereichen steht die Forschung also noch immer am Anfang, sowohl, was die Ursachen als auch die Therapiemöglichkeiten von Long Covid betrifft. Die Charité-Immunologin Scheibenbogen fordert mehr Kapazitäten, um Diagnosen stellen und Patienten versorgen zu können. "Wir brauchen Spezialisten, die sich mit diesen Krankheitsbildern auskennen. Und wir brauchen dringend Therapiestudien mit Medikamenten, die die Erkrankung heilen können."

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