Interview

Interview zur Wirtschaft in China "China sieht Europa als unübersichtlichen Haufen"

Stand: 16.09.2011 01:07 Uhr

China reiche Europa die Hand - aber die europäischen Regierungen müssten "ihr eigenes Haus in Ordnung bringen", sagt Ministerpräsident Wen Jiabo. Denn in China hat man wenig Verständnis für die europäische Diskussionskultur, erklärt ARD-Korrespondentin Ariane Reimers im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: In Deutschland haben die Äußerungen Chinas, Europa eine helfende Hand zu reichen, für viel Hoffnung und Aufsehen gesorgt. Wie betrachtet man Deutschland in China?

Ariane Reimers: China betrachtet Deutschland als sehr wichtigen Partner in Europa. So ist Premierminister Wen Jiabao erst vor wenigen Monaten mit einer ungewöhnlich großen Delegation nach Deutschland gereist. Offiziell heißt das "strategische Partnerschaft". Außerdem ist Deutschland für China ein sehr wichtiger Ansprechpartner in diesem aus chinesischer Sicht sehr unübersichtlichen Haufen Europa.

Zur Person
Ariane Reimers, Jahrgang 1973, ist seit 2010 ARD-Korrespondentin in Peking. Zuvor war sie schon von 2006 bis 2008 als Korrespondentin in Schanghai. Für ihre Berichterstattung über die Kinder von zum Tode verurteilten Kriminellen in China wurde sie mit dem Axel-Springer-Preis und als CNN-Journalist of the Year ausgezeichnet.

tagesschau.de: Bekommt man bei Ihnen etwas mit von Euro- und Wirtschaftskrise?

Reimers: Ja, das bekommen viele mit. Es ist ein sehr wichtiges Thema hier. Meine chinesischen Freunde sprechen mich darauf an, fragen mich nach meiner Einschätzung. Schließlich hängt ihre Wirtschaft auch sehr stark von der europäischen und der amerikanischen Wirtschaft ab, entsprechend groß ist das Interesse.

Wofür es in der chinesischen Regierung, aber auch bei vielen Bürgern kein Verständnis gibt, sind die Auseinandersetzungen, die etwa in den USA anlässlich der Anhebung der Schuldengrenze geführt wurden. Solche inhaltlichen Schlachten sind für Chinesen ein Negativbeispiel von Demokratie. Wenn eine Ein-Parteien-Diktatur herrscht, in der man durchregieren kann, dann sind vielen Menschen Diskussionen eben fremd.

tagesschau.de: Wie erklären Sie das den Leuten?

Reimers: Ich versuche, ihnen dann zu sagen, dass in der Demokratie Meinungsbildung anders funktioniert. Und dass der Mangel an Transparenz in China etwa auch eine der Ursachen für die hohe Korruption in der chinesischen Wirtschaft ist – die ein sehr ernstes Problem ist. Dass das in Deutschland besser ist, weil es dort eine freie Presse gibt, Parteien die sich gegenseitig kontrollieren, Rechtsschutz und unabhängige Gerichte. Das gibt es hier alles nicht.

tagesschau.de: Sie sagen, Chinas Wirtschaft hängt sehr stark von der europäischen und amerikanischen Wirtschaft ab. Inwiefern?

Reimers: Chinas Wirtschaft lebt sehr stark von Exporten. Wenn die Märkte in Europa und in den USA zusammenbrechen und der Konsum dort zurückgeht, dann heißt das für China, dass weniger Produkte benötigt werden, mit einem Schlag die Fabriken stillstehen, und massenweise Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen.

tagesschau.de: Also ist Chinas Reaktion auf die Wirtschaftsschwäche der USA und Europas auch Eigennutz?

Reimers: Absolut.

"China versucht, Sprache, Kultur und Chinabild mitzutransportieren"

tagesschau.de: Welche Motivation steckt noch hinter dem wirtschaftlichen Engagement Chinas in Europa, geht es da nur um Wohlstand, oder gibt es auch kulturelle Gründe?

Reimers: Die wirtschaftlichen Gründe sind natürlich die wichtigsten. China hält durch den Exportüberschuss unheimlich viel Geld in ausländischen Devisen, besonders in US-Dollar, aber auch in Euro. Geld, das die Chinesen nicht nur erneut in kriselnde Währungen anlegen wollen. Direktinvestitionen in Europa sind auch im neuen Fünf-Jahres-Plan empfohlen.

Auf der Kulturseite tut sich aber auch etwas. China baut sein weltweites Netz an Konfuzius-Instituten aus, das ist das chinesische Äquivalent zu den deutschen Goethe-Instituten. Das hat das ganz klare Ziel, China im Ausland positiv darzustellen. Da geht es um die Vermittlung kultureller Werte. Und zahlreiche chinesische Medien publizieren längst auch in englischer Sprache, das chinesische Staatsfernsehen beispielsweise. Seit diesem Jahr gibt es auch einen Agenturdienst. So wird versucht, den westlichen Agenturen etwas entgegen zu setzen.

tagesschau.de: Kann man von einer kulturellen Expansion sprechen?

Reimers: China hat sich über Jahrhunderte abgeschottet, Ausländer waren verboten, durften nicht einmal das Land bereisen. Das ist heute wesentlich anders. China versucht vermehrt, sich in der Welt positiv darzustellen, und über die Wirtschaft auch Sprache, Kultur und Chinabild mitzutransportieren. Und China ist ja auch für viele attraktiver geworden, Europäer reisen her oder lernen die Sprache.

tagesschau.de: Wenn Europas wirtschaftliche Abhängigkeit von China weiter steigt, wie sehr kann der Westen dann noch auf Demokratie und der Einhaltung von Menschenrechten bestehen?

Reimers: Das hängt auch sehr von Ländern und Personen ab. Deutsche Politiker sprechen diese Themen eigentlich immer an, wenn sie in China zu Gast sind. Wie intensiv und ob offen – also vor der Presse – oder im persönlichen Gespräch – das hängt natürlich davon ab, wer gerade hier ist.

Es gibt aber auch europäische Länder, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie darauf verzichten, diese Themen anzusprechen. Man munkelt, um das Klima für Investitionen nicht zu verderben.

"China sieht sich selbst als Schwellenland"

tagesschau.de: Dieser Wandel, dass China Europa ein starker wirtschaftlicher Partner ist, ist noch relativ frisch. Wie wird das in China gesehen?

Reimers: China nimmt sich selbst noch als wesentlich schwächer wahr, also immer noch als Schwellenland. Es ist auch wirklich noch kein reiches Industrieland, da muss man nur über Land fahren, dann sieht man, wie arm die Leute hier noch sind. Diese Regionen sind weit von einem Standard entfernt, den in Europa selbst die ärmeren Regionen erfüllen. Ganz zu schweigen natürlich von politischer Freiheit.

Was das Wohlergehen der chinesischen Wirtschaft betrifft: Man lässt sich auch leicht von den vielen Devisen blenden. Und verlässliche Statistiken gibt es nicht, das bleibt in dieser Staatswirtschaft alles geheim. Offiziell ist die Staatsverschuldung sehr gering, würde man die hoch verschuldeten Kommunen mit einrechnen, dann wäre sie wohl wesentlich höher.

tagesschau.de: Wie kommunistisch ist China heute noch?

Reimers: Das lässt sich nicht ganz eindeutig beantworten. Es ist kein Kommunismus, wie er bei Marx propagiert wird, das ist klar. Zum einen gibt es hier vielerorts eine Marktwirtschaft, die – gerade was die Lohnstruktur betrifft – im höchsten Grade neoliberal ist und auf Ausbeutung setzt. Dabei ist ja eigentlich ein Grundgedanke des Kommunismus, die Ausbeutung der Arbeiter zu überwinden.

Andererseits basiert das Parteiensystem nach wie vor auf einer abgeschlossenen, hierarchischen Organisationsstruktur, in die Außenstehende keinen Einblick haben. Es gibt keine Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit. Auch in anderen Bereichen ist China noch sehr kontrolliert: Der Renminbi, die Volkswährung, ist nicht frei konvertierbar, es gibt einen Fünfjahresplan, der sehr ernst genommen wird, die Schlüsselunternehmen sind in staatlicher Hand – die Liste der Beispiele ist lang. Man nennt das hier "Sozialismus mit chinesischen Merkmalen". Und in diesem Jahr setzt die Kommunistische Partei anlässlich ihres 90. Geburtstages wieder verstärkt auf kommunistische Folklore - rote Lieder, kommunistische Parolen.

Das Interview führte Anna-Mareike Krause, tagesschau.de