Euroschau zu Draghi Der Euro-Retter und Zinsen-Killer tritt ab

Stand: 23.10.2019 14:56 Uhr

Acht turbulente Jahre lang leitete Mario Draghi die Geschicke der EZB. Ende Oktober tritt er ab. In seiner Amtszeit wurde er gefeiert, aber auch oft kritisiert. 

Es ist ein Ritual: Langsam fährt der Aufzug in den fünften Stock des Gebäudes der Europäischen Zentralbank (EZB) am Frankfurter Mainufer. Die Tür geht auf. Er tritt heraus, biegt rechts um die Ecke durch die Glastür und steuert auf das hell erleuchtete Podium im Pressezentrum zu. Begleitet wird er von seiner Kommunikationschefin auf der einen, vom Vizepräsidenten auf der anderen Seite, daneben und dahinter mehrere Sicherheitsleute.

Fragen? Maximal 50 Minuten

Dort angekommen hält er inne, lächelt etwas verkrampft in die Kameras, schaut in das Blitzlicht-Gewitter, um sich dann hinzusetzen, die anwesenden Journalisten zu begrüßen und minutenlang ein vorgefertigtes Kommuniqué vorzulesen. Ist das geschafft, steht er für Fragen bereit, limitiert auf zwei pro Person und insgesamt maximal für 50 Minuten. Manchmal ist er erfreut, um seine Botschaft besser erläutern zu können, manchmal ist er genervt, weil er sich schon wieder zu etwas äußern soll, wozu er eigentlich gar nichts sagen will.

64 Mal hat Mario Draghi dieses Ritual der Pressekonferenz nach der EZB-Ratssitzung in seiner achtjährigen Amtszeit absolviert, vielleicht auch durchlitten, zumindest aber nicht gerade mit Freude absolviert. Hinzu kamen zwölf externe Pressekonferenzen mit ähnlichem Verlauf auf den jährlichen Treffen des EZB-Rates - in Barcelona, Paris, Ljubljana, Larnaka, Tallinn und Riga, um nur einige zu nennen.

Diesen Donnerstag tritt er zum 77. und letzten Mal vor die internationalen Journalisten, die die Geldpolitik der EZB mit Argus-Augen verfolgen. Denn wenige Tage später endet seine Amtszeit. Am Montag übergibt er nach der letzten Ratssitzung in einem großen Festakt mit rund 400 geladenen Gästen symbolisch sein Amt an Nachfolgerin Christine Lagarde. Ende Oktober räumt er sein Büro im 40. Stock. Anfang November zieht sie ein und übernimmt die Amtsgeschäfte.

Nie besonders mitteilungsbedürftig

Was mag vorgehen im Kopf des 72-Jährigen, wenn er seine Amtszeit Revue passieren lässt? Woran denkt er? Woran erinnert er sich besonders? Wir wissen es nicht genau. Denn Draghi war nie ein Mann, der die Nähe zu den Medien suchte oder besonders mitteilungsbedürftig war - außer die Medien waren ein geeignetes Vehikel, seine Botschaften zu transportieren.

Nie machte er einen Hehl daraus, dass der Kontakt zur Öffentlichkeit zwar notwendig, aber nicht unbedingt von großer Priorität sei. Und nie bemühte er sich darum, so zu formulieren, dass man seine Sätze auf Anhieb verstand.

Gründe dafür gibt es viele. Draghi ist ein Mann, der in der Welt der Wissenschaft, der Banken und vor allem der Notenbanken groß geworden ist. Kontakt zur normalen Bevölkerung gab es da meistens nicht. Das hat ihn sozialisiert. Er ist ein Mann, der seinen Job immer überaus ernst nimmt, der sich in jedem Detail auskennt, ein Fachmann, der auch delegiert, doch gerne die Fäden in der Hand hält und seine Ansichten durchsetzt. Draghi war EZB-Präsident in einer Zeit, in der diese Institution von einem Krisen-Modus in den nächsten rutschte, in der nicht klar war, ob und wie lange der Euro noch existieren würde, in der jedes Wort noch mehr als ohnehin schon von den Finanzmärkten auf die Goldwaage gelegt wurde.

2012: Eine Rede, die es in sich hatte

Draghi wird vielen in Erinnerung bleiben, als der Mann, der den Euro rettete. Im Sommer 2012, als besonders an den britischen Finanzmärkten destruktiv gegen die noch junge Gemeinschaftswährung spekuliert wurde und Londons Buchmacher schon Wetten darauf annahmen, wie lang es den Euro noch gäbe, machte sich der Chef der EZB auf den Weg in die Höhle des Löwen. Er hielt in London eine Rede vor einer Investment-Konferenz in Lancaster House, die eher beiläufig erschien und zunächst kaum Medieninteresse hervorrief.

Doch diese Rede hatte es in sich. Die EZB werde alles tun, um den Euro zu retten, sagte Draghi. "Und glauben Sie mir: Es wird genug sein!"

Finanzmärkte mit Geld geflutet

Allein die Ankündigung reichte aus, um das Ziel zu erreichen: die Spekulation gegen den Euro hörte fast schlagartig auf. Draghi machte seine Ankündigungen wahr: Er flutete die Finanzmärkte mit Geld, er kaufte Anleihen bis zum Abwinken, er senkte die Zinsen auf Null und darunter.

Draghi rettete den Euro und feuerte die Wirtschaft in der Eurozone an. Die erholte sich zwar schleppend, dann zeitweise jedoch nachhaltig. Er lieferte also, was er versprochen hatte - und es war genug, vielleicht sogar mehr als genug, manche würden sagen: viel zu viel.

Viele Nebenwirkungen

Denn die Medizin, die Draghi lieferte, hatte auch dramatische Nebenwirkungen: Blase an den Aktienmarkten, Blase an den Immobilienmärkten, dysfunktionaler Anleihemarkt, Null-Zinsen, Altersvorsorge in Schieflage, noch nicht beendete Rechtsstreitigkeiten über die Legitimität der Maßnahmen, zwei spektakuläre Rücktritte deutscher EZB-Ratsmitglieder, Spannungen mit der Bundesbank und, und, und.

Das Schlimmste: Der Zins-Mechanismus wurde außer Kraft gesetzt und damit das Rückgrat eines funktionierenden Wirtschaftssystems. Warum? Wegen Europa. Wegen der Verschuldung der südlichen Mitgliedsstaaten, wegen der Aufnahme von Ländern wie Griechenland, die eigentlich gar nicht fit für den Euro waren. Aber auch wegen der europäischen Idee, die von der EZB gerettet werden musste, weil sich die politisch Verantwortlichen dazu nicht in der Lage sahen.

Die EZB als Feuerwehr

Die EZB spielte Feuerwehr, weil die Staats- und Regierungschefs sich nicht durchringen konnten, den Euro auf ein Fundament zu setzen, das ihn stabil und unangreifbar macht.

All das hat auch die EZB verändert. Und Draghi hat die Chance nicht nur erkannt, sondern auch genutzt. Eigentlich sollte die EZB eine unscheinbare Institution sein und bleiben, die im Hintergrund Geldwertstabilität garantiert und sichert, selbst aber als unpolitischer Akteur agiert. Und was ist daraus geworden? Das Gegenteil.

Ein politisches Bollwerk

Heute ist die EZB ein politischer Machtfaktor, der so viel Einfluss auf Bürger hat, wie die Regierungen in den Staatskanzleien. Die EZB ist ein politisches Bollwerk, an dem niemand mehr vorbei kommt. Und dass dies so ist, liegt nicht nur an der Situation, sondern auch am Geschick Draghis, diese Rolle genauso zu übernehmen.

Bleibt also die gemischte Bilanz vom Euro-Retter und Zinsen-Killer. Ob Mario Draghi das selbst auch so sieht? Das wissen wir nicht. Denn, wie gesagt, der Austausch mit der Öffentlichkeit ist nicht groß. Das könnte sich jetzt ändern. Seine Nachfolgerin Lagarde hat schon angekündigt, dass ihre Kommunikation künftig anders läuft: offener, einfacher, verständlicher.

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