Interview

Türkei-Experte analysiert die Protestbewegung "EU sollte den Demonstranten helfen"

Stand: 17.06.2013 18:12 Uhr

Zwei Lager stehen sich in Istanbul und vielen anderen Städten unversöhnlich gegenüber. Der Türkei-Experte Aydin spricht deshalb im Interview mit tagesschau.de von einem "Kulturkampf". Die EU müsse die Reformkräfte stützen und den Beitritt der Türkei vorantreiben.

tagesschau.de: Wie geschlossen und einheitlich tritt die Protestbewegung in der Türkei auf?

Yasar Aydin: Die Bewegung ist nicht einheitlich, sondern bunt und vielfältig: Es sind politisch und kulturell unterschiedliche Gruppierungen mit jeweils eigenen Forderungen. Was die verschiedenen Gruppen aber eint, ist die Ablehnung des autoritären und polarisierenden Politikstils von Regierungschef Erdogan. Die meisten Demonstranten gehören der Mittelschicht an. Sie sind jung, urban, weltoffen, gebildet und haben von der positiven Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre profitiert. Es sind potentielle Wähler der oppositionellen "Republikanischen Volkspartei". Allerdings lehnen viele, die in der Türkei derzeit auf die Straße gehen, das ganze System der etablierten Parteien ab.

Zur Person
Yasar Aydin forscht über Zuwanderungspolitik, die Türkei und die EU. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und Wissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

tagesschau.de: Sind die Demonstrationen vergleichbar mit dem so genannten arabischen Frühling, den wir zum Beispiel in Ägypten erlebt haben?

Aydin: Es gibt in der Tat viele Parallelen. Auch in der Türkei sind die Demonstranten mehrheitlich sehr jung, sie haben einen universitären Hintergrund, entstammen der gebildeten Mittelschicht und organisieren sich über die sozialen Netzwerke im Internet. Und es geht ihnen um mehr Demokratie und Meinungsfreiheit.

tagesschau.de: Repräsentieren die Demonstranten die Mehrheit in der Türkei?

Aydin: Das ist schwer einzuschätzen. Erdogan hat weiterhin einen sehr starken Rückhalt in der Gesellschaft, und er kann seine Anhänger auch mobilisieren. Das haben die beiden Großkundgebungen in Istanbul und Ankara bewiesen. Allerdings muss der Regierungschef aufpassen. Auch bei seinen Unterstützern stoßen autoritärer Führungsstil und exzessive Polizeigewalt auf Kritik. Wenn er diesen Kurs der Konfrontation fortführt, dann könnten sich viele seiner Anhänger von ihm abwenden. Denn die Demonstranten haben bei vielen Menschen Sympathien.  

Genau da setzt Erdogan an. Er versucht die Protestbewegung zu diskreditieren, indem er behauptet, die Demonstranten würden in Moscheen Alkohol trinken und Sex haben. Diese Strategie verfängt aber offenbar nicht.

"Die Türkei ist gespalten"

tagesschau.de: Wie würden Sie beschreiben, was sich dort im Land derzeit abspielt?

Aydin: Es herrscht eine Art Kulturkampf. Die türkische Gesellschaft ist stark polarisiert. Das hat mit der Art der türkischen Modernisierung zu tun, die von oben nach unten durchgesetzt wurde. Lange hat eine säkulare Elite einen Reformkurs gegenüber der konservativ-religiös orientierten Bevölkerung durchgesetzt. Mit Erdogan hat sich das geändert. Seine konservativ ausgerichtete AKP gibt diesen Menschen eine neue Identität, ein neues Selbstbewusstsein. Nun versucht der Regierungschef, seinen Konservatismus im ganzen Land durchzusetzen. Das aber gelingt nicht, weil es in der Türkei eben auch eine ganz breite säkulare und westlich eingestellte Bewegung gibt. Das Land ist, wenn Sie so wollen, gespalten.

tagesschau.de: Erdogan spielt die konservative Karte viel mehr als früher. Warum tut er das?

Aydin: Erdogan ist ja mal als Reformer angetreten. Er hat die Annäherung an die EU vorangetrieben und eine Politik der Null-Toleranz gegenüber Folter beschworen. Und er hat eine Politik der Demokratisierung in der Türkei betrieben. Nach jedem Wahlerfolg wurde er aber autoritärer. Erdogan hat vor drei Jahren eine konservative Verfassungsänderung mit großer Mehrheit durchbekommen und merkt immer mehr, dass er nicht auf die liberalen und säkularen Wählerschichten angewiesen ist. Denn die konservativen Schichten machen circa 60 Prozent der Bevölkerung aus. Die will Erdogan bei der Stange halten und nicht an die Nationalisten verlieren.

"Die Demonstranten wollen mehr Freiheit"

tagesschau.de: Kann man die Proteste als pro-europäisch bezeichnen?

Aydin: Es gibt eine kleine, linksradikale Minderheit, die gegen die EU ist, weil sie dort kapitalistische Ausbeutung am Werke sieht. Die ganz große Mehrheit der Demonstranten ist pro-europäisch und westlich orientiert. Das ist ganz anders als 2007. Damals haben säkular nationalistische Eliten gegen Erdogan und die Annäherung an die EU protestiert. Diesmal ist es genau umgekehrt. Den heutigen Demonstranten geht es um mehr Freiheit und um eine schnelle Annäherung an die EU.

tagesschau.de: Schwächt das Handeln Erdogans den Anspruch seines Landes, Mitglied der EU zu werden?

Aydin: Natürlich gehört die Türkei in die EU und ist ja auch auf dem Weg dorthin. Die Proteste zeigen ja, dass die Türkei mittlerweile eine breite zivilgesellschaftliche Basis hat. Die Proteste stehen für Pluralismus und westliche Werte. Allerdings muss Erdogan zurückkehren zu seinem Reformkurs der vergangenen Jahre. Man darf aber seinen autoritären Führungsstil nicht mit einem Erstarken des Islamismus verwechseln. Es gibt in der Türkei keine ernstzunehmende islamistische Bewegung.

tagesschau.de: Wie sollte sich die EU jetzt positionieren?

Aydin: Brüssel sollte sich kritisch aber konstruktiv zeigen. Die EU sollte vermeiden, Erdogans Politik als Vorwand dafür zu nehmen, den Prozess des EU-Beitritts abzubrechen. Die Türkei braucht eine konkrete Beitrittsperspektive, sonst werden die konservativen Kräfte im Land nur bestärkt. Die EU sollte die Protestbewegung und die demokratischen Kräfte unterstützen, statt eine Politik der Abgrenzung zu betreiben. Allerdings muss sie am autoritären Führungsstil Erdogans deutlich Kritik äußern. Bundeskanzlerin Merkel geht mit ihrer Kritik in die richtige Richtung. Da Deutschland auch ein wichtiger Wirtschaftspartner der Türkei ist, werden solche Worte dort durchaus gehört.

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de.

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